»Das Assad-Regime muss weg«
Die Unterscheidung zwischen Terrorismus und der syrischen Regierung ist falsch, findet Jaqar Khoen Mullah Ahmed
Sie haben sich im Rahmen des arabischen Frühlings 2011 an den Protesten gegen die syrische Regierung beteiligt. In welcher Situation sind Sie aus Syrien geflohen?
Der syrische Aufstand gegen Assad sollte eine Revolution für Freiheit und Demokratie werden, inspiriert von den Aufständen in Tunesien und Ägypten. Das Regime reagierte auf die friedlichen Proteste jedoch umgehend mit starker Repression. Ich war Mitglied des Verbands der freien syrischen Studenten in Aleppo und gab der Presse unter falschem Namen Interviews. Viele von uns wurden festgenommen. Auch ich wurde gesucht, konnte mich jedoch drei Monate lang verstecken. Dann wurde ich verhaftet und verbrachte insgesamt 600 Tage im Gefängnis.
Wie waren die Haftbedingungen?
Wir wurden dort schrecklich gefoltert. Und ausgehungert. Monatelang haben wir nur eine Tasse Mehl am Tag erhalten, manchmal erhielten wir nur dreimal pro Woche etwas zu essen. Ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen. Aber während meiner Haftzeit sind 856 Gefangene zu Tode gekommen. Meine Eltern konnten mich 2013 gegen Kaution aus der Haft befreien. Das Urteil blieb jedoch aufrecht, auf mich wartete die Todesstrafe. Ich entschloss mich, zu fliehen.
Weil er gegen die syrische Regierung protestierte, wurde Jaqar Khoen Mullah Ahmed in Syrien monatelang inhaftiert und gefoltert. Nach seiner Freilassung gelang ihm die Flucht nach Deutschland. Elsa Koester sprach mit ihm in Berlin am Rande einer Veranstaltung von Amnesty International über die Kriegseinsätze des Westens und Russlands in Syrien und über seine Einschätzung zu einer möglichen Zusammenarbeit mit der syrischen Regierung.
Wie ist Ihnen die Flucht aus Syrien bis nach Deutschland gelungen?
Die Türkei hatte damals alle Grenzen zu den kurdischen Gebieten in Syrien geschlossen. Ich passierte die Grenze illegal. In der Türkei suchte ich Kontakt zu »Adopt a Revolution«, einer Hilfsorganisation, die zivilgesellschaftliche Strukturen in Syrien unterstützt. Ich hatte sie während meiner Arbeit im Studentenverband kennengelernt. Noch heute ist sie in den kurdischen Gebieten aktiv. »Adopt« verhalf mir und meiner Frau über das Auswärtige Amt zu einem deutschen Visum.
Sehen Sie jetzt noch für einen demokratischen Wandel in dem von Krieg zerstörten Syrien?
Auch heute kämpfen wir für eine demokratische Gesellschaft und einen zivilen Staat in Syrien. Davon sind wir jedoch weit entfernt. Der Grund dafür liegt darin, dass das Hauptproblem international nicht angegangen wird: Das Assad-Regime muss weg. Auf der ersten Genfer Konferenz wurde das erkannt, und daran hätte man sich halten sollen. Doch der Westen ist leider umgeschwenkt und unterstützt die syrische Gesellschaft nicht mehr. Inzwischen wird die Regierung Assad von allen Seiten gestärkt.
Sie halten also nichts von der Überlegung Frankreichs, mit Syriens Präsident Baschar al-Assad gegen den Islamischen Staat (IS) zusammenzuarbeiten?
Die Unterscheidung zwischen Terrorismus und dem syrischen Regime ist ein großer Fehler westlicher Regierungen. Das Assad-Regime hat den Terrorismus mit hervorgebracht. Ich habe selbst in der Haft erlebt, dass Terroristen von der Regierung frei gelassen wurden, damit sie im Land für Instabilität und Chaos sorgen. Die Internationale Koalition kämpft ausschließlich gegen den IS. Damit schadet sie in erster Linie der Zivilbevölkerung, weil sich der IS hinter Zivilisten versteckt. Wichtiger wäre es, sichere Gebiete für Zivilisten auf syrischem Gebiet zu schaffen – und einen sicheren Fluchtkorridor.
Befürworten Sie westliche Militärschläge gegen Assads Truppen?
Es kann nicht sein, das zugesehen wird, wie das syrische Regime weiter vorrückt – bis tief in ehemals befreite Gebiete hinein. Russland und Iran unterstützen das sogar. Sie haben Angst, ihren Einfluss im Nahen Osten zu verlieren. Es geht um internationale politische Interessen, deren Opfer die syrische Bevölkerung ist.
Um Syrien zu befreien, müssen Assad und der IS gleichzeitig bekämpft werden. Wir brauchen eine Übergangsregierung, die freie Wahlen einleitet. Die syrische Gesellschaft muss selbst entscheiden, wer Syrien regiert. Nur so kann ein demokratischer Staat aufgebaut werden.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.