Hui Buh und der Kommunismus
Das Gespenst ist nicht ohne Marx zu denken. Aber erfunden hat es ein anderer.
Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus«, so beginnt einer der berühmtesten Texte der Welt: das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Veröffentlicht am Vorabend der Revolution von 1848 gehört es seit 2013 zum UNO-Weltkulturerbe. »Alle Mächte des alten Europa«, heißt es im Manifest weiter, hätten sich »zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet.« Wo sei »die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als kommunistisch verschrien worden wäre, wo die Oppositionspartei, die der fortgeschritteneren Oppositionsleuten sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Kommunismus nicht zurückgeschleudert hätte?« Aus dieser Tatsache gehe aber zweierlei hervor: »Der Kommunismus wird bereits von allen europäischen Mächten als eine Macht anerkannt.« Und deshalb sei es »hohe Zeit, daß die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen« darlegten und »dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst« entgegenstellten.
Das Manifest geriet kurz nach seiner Veröffentlichung zunächst in Vergessenheit. Wie Eric Hobsbawm in seiner Einleitung zur englischsprachigen Ausgabe anmerkt, war Mitte der 1860er Jahre »im Grunde nichts, was Marx in der Vergangenheit geschrieben hatte, noch im Druck erhältlich«. Erst die Gründung der Ersten Internationale 1864 und kurz darauf des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und der SPD belebten das Interesse an dieser - nach Hobsbawm - »einflussreichsten Schrift seit der Erklärung der Menschenrechte« wieder. Pikanterweise ermöglichte gerade der Hochverratsprozess gegen die SPD-Führer Wilhelm Liebknecht, August Bebel und Adolf Hepner 1872 die Karriere des Manifests, weil die SPD es in Folge des Gerichtsverfahrens nun ganz legal als Begleitdokument massenhaft drucken konnte.
Im Zuge des internationalen Aufstiegs der sozialistischen Arbeiterbewegung eroberte es in den nächsten vier Jahrzehnten die Welt. Damit vermochte das Gespenst zur vielleicht bedeutendsten Metapher in der Ideengeschichte zu avancieren. In der Linken thront es - die rote Fahne einmal ausgenommen - unangefochten über allen anderen. Und das heißt schon was, hat die Linke in ihrer Geschichte doch unzählige mächtige Symbole geschaffen wie die anderen starken Marxschen Bilder von der Arbeiterbewegung als »Maulwurf« und »Totengräber«, wie den »Engel der Geschichte« aus Walter Benjamins »Geschichtsphilosophischen Thesen«, wie den Pflaumenbaum bei Brecht und Degenhardt, wie den Pergamonaltar aus Peter Weiss‘ »Ästhetik des Widerstands« oder den New Yorker Bethesda-Brunnen aus Tony Kushners »Angels in America«.
Aber warum eigentlich ein Gespenst? Im historischen Alltagsverstand steht es kulturübergreifend für ein Geisterwesen mit übernatürlichen Fähigkeiten, das immer wieder in menschlicher und doch-nicht-ganz-menschlicher Gestalt und unter nebulösen Lichtverhältnissen in Erscheinung tritt. Das Gespenst kommuniziert dabei zwischen Diesseits und Jenseits, Lebenden und Toten. Und in manchen Kulturkreisen lebt es als Geist eines Verstorbenen fort, solange auch nur noch ein einziger Mensch auf der Erde an ihn denkt.
Jedoch geriet dieser Gespenstervolksglaube mit der Moderne in eine tiefe Krise. Bei Shakespeare flößen die Gespenster Hamlet noch Todesängste ein. Mit der Aufklärung geraten sie jedoch auf die »Rote Liste« der vom Aussterben bedrohten Arten. In den 1830er Jahren machten sich Autoren wie Joseph Weber in aufklärerischer Mission auf die Suche nach dem »Urgrund des Hexen- und Gespensterglaubens«. Zwar haderte Heinrich Heine mit der Hartnäckigkeit des Phänomens: Die Lehre seiner »Harzreise« (1826) ist, dass sich der Geisterglauben am Leben erhalte, solange die Furcht größer ist als der Wille zur Vernunft. Doch schlussendlich blieb nur der unterhaltende Schauder übrig. Mit »Tausend und ein Gespenst« (1849) verabschiedete Alexandre Dumas das Thema in die heitere Kinderunterhaltung. Vierzig Jahre später konnte es ironisch gewendet werden: Oscar Wildes »Gespenst von Canterville« (1887) verfällt selbst in panische Angst vor den neuen Bewohnern seines Spukhauses. Damit war für jene Form der Domestizierung des Gespensterglaubens Tür und Tor geöffnet, die sich schließlich in »Das kleine Gespenst« (1966) von Otfried Preußler niederschlagen würde, in dem ein harmloses Gespenst auf die Hilfe von Kindern angewiesen ist, oder in »Hui Buh« (1969), wo das gleichnamige Gespenst nicht ohne behördliche Zulassung mit Ketten rasseln darf.
Marx und Engels nutzten also die Gespenster-Metapher zu einem Zeitpunkt, als der Glaube an ihre Existenz längst weitgehend als Aberglaube dechiffriert war. Damit brachten sie spöttelnd zum Ausdruck, dass der Kommunismus nichts sei, wovor eine aufgeklärte Gesellschaft Angst zu haben brauche. Nur die Herrschenden hätten noch Angst vor Gespenstern, weil sie überholt seien und in der Zukunft kein Platz für sie sei. Dabei ist es interessant, dass das Gespenst als eine Gestalt des Aberglaubens insofern eine positive Wendung erfährt, als es den Ausbeutern einen Schrecken einjagt; anders als etwa der Vampir in seiner Fundamentalkritik des Kapitalismus knapp zwei Jahrzehnte später: So sei »das Kapital verstorbne Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.«
Mit Marx und Engels kam also »Das rothe Gespenst der Revolution« in die Welt, wie es im Titel eines 1868 erschienenen Romans von Edmund Mühlwasser hieß. Seither ist es immer wieder totgesagt worden: Etwa 1967, als der »Spiegel«-Journalist und SPD-Mann Carl-Heinz Boettcher postulierte: »Ein Gespenst tritt ab in Europa: Aufstieg und Niedergang des Kommunismus«. Er selber war ein Anhänger der Konvergenztheorie, nach der sich im Zuge einer besseren Regulierung und des Ausbaus von Sozialstaat und öffentlichem Sektor Kapitalismus und Sozialismus immer weiter annähern würden. Mit der Fordismuskrise und neoliberalen Wende wenige Jahre später war diese technokratische Vorstellung bereits vor die Wand gefahren. Das Gespenst dagegen erlebte mit 1968 einen neuen Frühling. Freilich hieß es dann auch nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus: »Ein Gespenst verschwand in Europa« (Uli Schöler 1999). Aber selbst Nicht-Marxisten wie der Dekonstruktivist Jacques Derrida riefen es wieder in Erinnerung. Ja, gerade mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus sei, so Derrida 1993 in »Marx‘ Gespenster«, das Gespenst des Kommunismus erneut auf die Erde zurückgekehrt, insofern die soziale Frage, von der es heraufbeschworen worden ist, sich im Zuge der Globalisierung des Kapitalismus umso dramatischer stelle, weshalb Derrida eine »Neue Internationale« evozierte.
Kurzum, solange der Dreiklang Kapitalismus-Krise-Krieg nicht durchbrochen ist, wird auch das Gespenst - zuletzt etwa bei der Veranstaltungsreihe »Marx‘ Gespenster« im Berliner Theater Hebbel am Ufer - immer wieder neu als Metapher für den Kampf um das »Reich der Freiheit« (Marx) durch politische und ästhetische Veranstaltung geistern. Und in unzähligen Variationen hält man mit ihm Diskurs - wie etwa in Joseph Vogls »Das Gespenst des Kapitals« (2010) oder Sonja Kmecs »Das Gespenst des Feminismus« (2012). Um es mit einem 2015 erschienenen Buchtitel von Lutz Brangsch und Michael Brie zu formulieren: »Das Kommunistische« lebt und das »Gespenst kommt nicht zur Ruhe«. Auch wenn manche, wie Bini Adamczak, bei der »Rekonstruktion der Zukunft« heute von einer »Einsamkeit kommunistischer Gespenster« ausgehen mögen.
Trotz allem wird Marx/Engels die Metapher zu Unrecht zugeschrieben, denn schon sechs Jahre vor ihnen verwendete sie ein anderer. Und dieser gleichsam in Hegel’scher Dialektik geschulte Intellektuelle war sogar ein Konservativer und politischer Gegner des Kommunismus: der Alt- oder Rechtshegelianer Lorenz von Stein, der in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag feierte.
Der List der Vernunft ist es wohl zu verdanken, dass jemand, der in Borby bei Eckernförde in bäuerlich-provinzielle Verhältnisse im vorkapitalistischen Kleinstaaterei-»Deutschland« geboren wurde, zum Propheten einer Weltgeschichte wurde, die mit dem Kapitalismus auch seine dialektische Antithese, den Sozialismus, gebar. 1841/42 war Stein nach Paris gezogen, um ein neues Phänomen zu erforschen: die kleinen Intellektuellenzirkel der Frühsozialisten und die entstehende Bewegung der Lohnarbeiter. In dieser Randerscheinung entdeckte er als einer der ersten und noch vor Marx den zentralen Widerspruch in der bürgerlichen Gesellschaft: den Klassengegensatz von Kapital und Arbeit.
Marx selbst hat den Einfluss von Stein nicht explizit eingeräumt, aber trotzdem ist er sehr wahrscheinlich, denn die Parallelen gehen bis in die Details. So schrieb Stein 1842 in »Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs«: Neben Saint-Simonismus und Fourierismus stehe »der Kommunismus, ein finstres drohendes Gespenst, an dessen Wirklichkeit niemand glauben will und dessen Dasein doch jeder anerkennt und fürchtet«. Und während er am Anfang seines Werkes sich noch bei seinen Lesern entschuldigt hatte, dass er sich mit »so nebengeordneten Erscheinungen wie Sozialismus und Kommunismus« beschäftigte, formulierte er weiter: »Darf man da noch behaupten, dass alle diese Erscheinungen nur zufällige Resultate irregefahrener Köpfe sind?« Und er beantwortete die Frage im hegelianischen Geist und Sprachduktus gleich selber: »Nein, sie haben in sich ein Element, das ihnen ihr Leben gegeben hat; es verbirgt sich hinter den Resultaten, mit denen sie auftreten, ja hinter dem Bedürfnis selber, das Sozialismus und Kommunismus hervorrief.«
Mit anderen Worten: Für Stein als Hegelianer waren Sozialismus und Kommunismus als Ideen Ausdrucksformen einer neuen historischen Kraft in der Gesellschaft. Was aber, so fragte er weiter, sei denn nun das »Band, das den Sozialismus mit dem Kommunismus, beide mit dem innersten Leben der Gegenwart verbindet?« Und gab auch hier die Antwort selbst: »Es ist das Proletariat; die ganze Klasse derer, die weder Bildung noch Eigentum als Basis ihrer Geltung im gesellschaftlichen Leben besitzen, und die sich dennoch berufen fühlen, nicht ganz ohne jene Güter zu bleiben, die der Persönlichkeit erst ihren Wert verleihen.«
Das Proletariat sei in den französischen Revolutionsjahren zwischen 1789 und 1830 zum Klassenbewusstsein gekommen. Sechs Jahre bevor es sich in der 1848er-Revolution erstmals länderübergreifend als eigenständige politische Kraft artikulieren würde, schrieb Stein: »Der Proletarier beginnt allmählich ein selbstständiges Wollen, einen eigenen Zweck zu haben und zu erkennen, dass er bis dahin nur für andre gearbeitet und geblutet hat. Dazu kommt das Bewusstsein seiner Kraft; die Erinnerung an das, was durch ihn geschehen ist (…), und so wird allmählich aus dem Chaos dieser eigentums- und bildungslosen Masse ein Ganzes, dem keiner, wenn auch die Berechtigung, doch seine Bedeutung versagen kann.«
Nun war Stein nicht der Entdecker des Proletariats und Erfinder des Begriffs. Und faktisch gab es auch vor Stein im romantisch-antikapitalistischen Feudalkonservatismus der frühen 1820er Jahre Diskussionen über die entstehende Arbeiterklasse in England. Sie beobachtend entwickelten Denker wie Adam Müller und Franz von Baader ihre antiliberalen organizistischen Staatskonzeptionen. Überdies würde Marx‘ systematische Lektüre der französischen Frühsozialisten weit über Steins schlussendlich doch oberflächliche Betrachtung hinausgehen. Aus diesem Grund kritisierte Marx ihn auch in »Die heilige Familie« indirekt, als er Bruno Bauer vorwarf, sich nur auf Stein zu stützen und damit die englische Arbeiterbewegung als Teil des Gesamtphänomens »Proletariat« auszuklammern. Aber die Anerkennung der Urheberschaft der Gespenst-Metapher, die gebührt dann doch ihm.
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