Fremdling

Wort des Jahres

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Seit 1977 kürt die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) jährlich das Wort des Jahres. 1979 fiel die Wahl auf den Begriff «Holocaust». Das war insofern bemerkenswert, als bis dahin kein Wort im Deutschen existierte, das den von Deutschen begangenen industriell betriebenen Massenmord an den europäischen Juden prägnant beschreiben konnte. Erst nach der Ausstrahlung der US-Fernsehsendung «Holocaust» 1979 im deutschen Fernsehen fand der Begriff «Holocaust», der dem griechischen Wort holocauston entspringt, was so viel wie «vollständig verbrannt» bedeutet, Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs. Das, was bis heute unter dem Genozid an den Juden verstanden wird, ist also aus der Not heraus aus einer Fremdsprache in die hiesige Sprachregelung überführt worden.

Dieses Faktum war im doppelten Sinn befremdlich. Zum einen, weil in der Rede vom «Holocaust» seitdem die Juden gleichsam sprachlich aus der Erinnerungskultur getilgt wurden. Zum anderen, weil ein Fremdwort immer auch etwas Entfremdendes hat, denn es unterbreitet der Mehrheit in einer Gesellschaft das Angebot, die eigene Verantwortung nicht mehr beim Namen nennen zu müssen und auf andere schieben zu können. Theodor W. Adorno hat dies bereits in der «Minima Moralia» erkannt, als er Fremdwörter als «die Juden der Sprache» bezeichnete. Adorno hatte übrigens seine eigene Bezeichnung für den Völkermord der Nazis an den Juden. Er nannte den industrialisierten Genozid «Auschwitz».

Das sind keine Nebensächlichkeiten, denn während unter «Holocaust» alles mögliche subsumiert werden kann (bis hin zu den pervertierten Formen, die bezüglich der - moralisch verwerflichen - Massentierhaltung vom «Holocaust» an Hühnern etc. sprechen), bezeichnet «Auschwitz» einen konkreten Ort für ein konkretes Verbrechen und konfrontiert bildhaft noch heute die nachgeborenen Deutschen (und die, die in den vergangenen Jahrzehnten eingewandert sind und sich eingebürgert haben) mit der historischen Verantwortung.

In diesem Jahr lautete das Wort des Jahres «Flüchtlinge». Auf dieses Wort trifft bereits jetzt das zu, was «Holocaust» vor 36 Jahren erst werden musste. Der Begriff sei «stark im deutschen Wortschatz verankert», begründete die GfdS am Freitag ihre Entscheidung. Im Gegensatz zu der Auswahl der vorangegangenen Jahre (Lichtgrenze, GroKo, Rettungsroutine, Stresstest, Wutbürger) und wiederum ähnlich dem Wort des Jahres 1979 ist «Flüchtlinge» - wenn auch kein Fremdwort - befremdlich. Das Suffix «ling» hat im Deutschen einerseits eine neutrale, verniedlichende Bedeutung wie in «Findling», «Brätling» oder «Frischling», andererseits werden durch die Endung aber auch Personen negative Eigenschaften zugeschrieben; Beispiele dafür sind Wörter wie «Dümmling, »Schwächling« oder »Emporkömmling«.

Seit einigen Monaten versuchen Kreise der politischen Korrektheit daher, als Alternative den Begriff »Geflüchtete« durchzusetzen. Der Vorsitzende der GdfS, der Sprachwissenschaftler Peter Schlobinski, glaubt allerdings, dass »›Flüchtlinge‹ letztlich bleibt« und »dass ›Geflüchtete‹ keine Chance hat«. Vielleicht wäre es eh besser, einen anderen Begriff zu wählen. Wie wäre es mit »Heimatvertriebene«?

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