Das lange Warten auf Lesbos
Auf der griechischen Insel ist die Unterstützung für Geflüchtete und ihre Helfer weiter mangelhaft
Für Mahdi beginnt ein Abendessen immer mit dem Verbrennen von Tetrapacks. Früher gehörte dem 27-jährigen Afghanen eine Transportspedition in Kabul. Nun wohnt er mit seiner Familie in einem kleinen Campingzelt und wartet, dass der Plastikmüll Feuer fängt.
Mahdi ist ein Flüchtling. Einer von Hunderttausenden, die sich in diesem Jahr aufmachten, ein besseres Leben zu suchen - und ein europäisches Aufnahmelager fanden. »Registrierungszentrum« nennen griechische Behörden das Camp Moria auf Lesbos, an dessen Rand Mahdi, seine Mutter, seine Ehefrau und die zwei Kinder ihr Zelt aufgestellt haben.
»Hotspot« heißt das Lager in der Sprache der EU. Es soll eines von elf Zentren an der Außengrenze der EU sein, mit denen die europäische Staatengemeinschaft ihre »Flüchtlingskrise« humaner und effizienter gestalten will. Für einige Geflüchtete, die Glück haben, bedeutet dies einen Platz im Container aus grauem Kunststoff. Die meisten haben, wie Mahdi, Pech. Sie schlafen zwischen Müllhaufen auf Pappkartons unter freiem Himmel oder in einfachen Zelten.
Über eine halbe Million Flüchtlinge reiste in diesem Jahr über griechische Inseln in der Ost-Ägäis in die EU ein. Die meisten von ihnen landeten in Moria. Rund sechs Kilometer nördlich der Hafenstadt Mytilini werden hinter hohen Metallzäunen und Stacheldraht rund 2000 Menschen pro Tag registriert. Bis zu 4000 Flüchtlinge leben in dem Lager, das eigentlich für 400 gedacht war.
»Wir werden unser Bestes tun«, sagte Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras, als er vor einigen Wochen mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz die Insel besuchte. »Es ist eine Schande«, sagt Bob, der für die britische Hilfsorganisation Oxfam arbeitet. Im Kofferraum seines Mietwagens stapeln sich die Kisten mit Fladenbrot und Plastikschachteln, voll mit Reis und Rosinen. »Wir wechseln uns mit ›Save the Children‹ ab. Heute sind wir mit der Essensverteilung dran«, erzählt Bob. Rund 1000 Mahlzeiten werden er und Freiwillige bis Tagesende in Moria, dem zweiten Lager »Kara Tepe« und am Hafen verteilt haben. Viel zu wenig für alle Gestrandeten.
Zu wenig Essen, zu viel Gewalt, zu lange Wartezeiten: Seit Monaten klagen Flüchtlinge auf Lesbos über zu wenig Hilfe, klagen Helfer über zu wenig Unterstützung durch lokale Behörden, klagt die Kommunalverwaltung, Athen lasse sie allein, klagt die griechische Regierung über fehlende Gelder aus Brüssel, klagt Brüssel über fehlende Zusagen der EU-Mitgliedsstaaten. »Eigentlich« ist deshalb ein Wort, das man auf Lesbos häufig hört, wenn man fragt, warum sich die Versorgung der Flüchtlinge auch nach Monaten nicht verbessert hat.
Eigentlich sollten doch die EU-Grenzschutzagentur Frontex und die griechische Küstenwache die Menschen vor dem Ertrinken retten, sagen die freiwilligen Rettungsschwimmer im Norden der Insel. Eigentlich wollte Athen doch mehr Schiffe schicken. Eigentlich könnte man die Flüchtlinge doch mit Fähren abholen, sagt der Bürgermeister von Lesbos, Spyros Galinos. Eigentlich sollten EU-Behörden längst 600 und nicht nur mehrere Dutzend Mitarbeiter auf die griechischen Inseln entsandt haben. Eigentlich sollten die EU-Mitgliedsstaaten längst doppelt so viele Mitarbeiter für das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen freigestellt haben. Eigentlich wird Camp Moria von griechischen Behörden und der EU verwaltet.
In der Praxis erinnern an letzteres nur ein einsamer Wachmann, ein Wasserwerfer und einige Schutzschilder gegen mögliche Aufstände, die die Polizei vorsorglich hinter dem Zaun aufbewahrt. »Vielleicht morgen« werde er und seine Familie einen Platz in einem der Container bekommen, sagt Mahdi, auf den Teil des Camps jenseits des Stacheldrahtzauns zeigend. Helfer in blauen Westen des UN-Flüchtlingshochkommissariats versorgen dort die Angekommenen. Deutsche »Grünhelme« versuchen Zelte regen- und winterfest zu machen. Wer trockene Schuhe für sein Kind sucht, geht zu einem der Freiwilligen im roten »Save the Children«-Shirt. Nur eine einzige Warteschlange gibt es im ganzen Camp, an deren Ende die Flüchtlinge mit Menschen zu tun haben, die von der griechischen Regierung für ihre Arbeit bezahlt werden. Zwischen Stacheldraht und Scheinwerfern warten die Flüchtlinge oft tagelang auf das Dokument, das ihnen erlaubt, Richtung Westen weiterzuwandern.
Es wird noch einige Tage dauern, bis Mahdi und seine Familie in der letzten der vielen Warteschlangen auf Lesbos stehen werden. Im Hafen von Mytilini warten die Flüchtlinge vor den Ticketkontrolleuren des Fähranbieters. Zwei Mädchen spielen mit Streichholzschachteln in einer Pfütze ihre Flucht nach. Ein alter Mann röstet Kastanien im brennenden Müll. In einer Ecke des Platzes stehen Freiwillige vor einem »Ärzte ohne Grenzen«-Wohnmobil. Und die einzigen hauptamtlich arbeitenden Griechen, die sich um die Flüchtlinge kümmern, verkaufen Sim-Karten für Mobiltelefone.
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