Klarer Fall von Biopiraterie

Miguel Lovera über die Vermarktung des Süßstoffes Stevia auf Kosten der indigenen Volksgruppen

  • Lesedauer: 3 Min.

Der Süßstoff Stevia scheint ein neues Wundermittel auf dem Nahrungsmittelmarkt zu sein. Für Sie ist dieser Siegeszug nicht nur positiv. Was kritisieren Sie?

Was ein Wunder für die einen ist, kann für die anderen ein Fluch sein. Das betrifft vor allem die Volksgruppe der Guaraní in Südamerika, unter ihnen die Pai tavyterá oder Kaiowá-Guaraní in Brasilien. Sie nutzen die Stevia-Pflanze von jeher und verehren sie als heilig. Sie haben unzählige Versuche in der Verarbeitung der Pflanze unternommen, bis sie das Wissen um den Nutzen erlangt haben, das nun von anderen Akteuren und Unternehmen vermarktet wird.

Warum ist das ein Fluch für die Guaraní?

Die Unternehmen, von denen die Stevia-Rebaudiana-Pflanze und das traditionelle Wissen der Guaraní nun ausgebeutet werden, haben sich Piratenpatente gesichert. Diese Patente schließen die Guaraní von einer Teilhabe an den Verdiensten durch die Vermarktung ihres Rohstoffs und ihres weit entwickelten Wissens aus. Die rassistische Attitüde, mit der solches Wissen und solche Rechte übergangen werden, macht es uns schwer zu verstehen, was hier geschieht. Vor allem, weil es sich um eine Diskriminierung von Akteuren im Süden durch Unternehmen aus dem Norden handelt. Drehen wir den Fall mal um: Was wäre, wenn jemand im Süden Wein und Brot patentiert und die Christen in den Kirchen hier auf einmal eine Abgabe zahlen müssten? Die Reaktion der westlichen, zivilisierten Welt darauf möchte ich sehen!

Sie sprechen ja von einem Fall der Biopiraterie. Wie begründen Sie das?

Ganz einfach: Niemand hat die Besitzer der Stevia um Erlaubnis für die Aneignung und Nutzung dieser Pflanze gebeten. Niemand hatte die Erlaubnis, sie aus ihrem Lebensraum auf dem Gebiet der Guaraní zu entwenden. Die Unternehmen, die Stevia nun global vermarkten, haben noch nicht einmal die Vorgaben der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) beachtet, nach denen sie von den Ureinwohnern die vorherige, freie und informierte Einwilligung zur Nutzung ihrer traditionellen Ressourcen hätten einholen müssen. Die Vermarktung von Stevia ist auch ein klarer Fall von Biopiraterie, weil die Unternehmen darauf hingewiesen wurden, dass die Besitzer der Stevia in dem Gebiet leben: in Paraguay, Brasilien und Argentinien. Es sind keine alten, ausgestorbenen Kulturen. Die Nutzer sind da - und sie fordern ihre Rechte ein.

Wie müssen wir uns den Prozess der Aneignung des Wissens vorstellen, wie ist das abgelaufen?

Das lief auf verschiedenen Ebenen ab. Stevia-Proben finden sich vor allem in Sammlungen öffentlicher wissenschaftlicher Institute, die seit den 1970er Jahren Pflanzen in den Guaraní-Gebieten in Paraguay gesammelt haben. Die Guaraní haben den Besuchern die Pflanzen im guten Glauben geschenkt. Aber es ging nicht um einen freundlichen Austausch, sondern um Plünderung der Ressourcen. Diese Sammlungen haben ihren Weg über Kooperationsabkommen, Schenkungen und Verkäufe in die Labore der transnationalen Konzerne gefunden.

Sprechen wir denn über einen isolierten Fall?

Auf keinen Fall, die Piraten sind nicht untätig. Wir haben die Auseinandersetzung um den Niembaum, der seit Jahrtausenden in Indien genutzt wird, und von dem Biopiraten vor einigen Jahren plötzlich behaupteten, sie hätten seine Heilwirkung entdeckt und sie dann patentiert. Damals hat die indische Regierung die Interessen der Menschen gegen dieses Patent verteidigt. Aber die Biopiraten sind ebenso mit der Quinoa-Pflanze und dem Amaranth in Bolivien und Peru verfahren. Auch dort haben beide Regierungen erfolgreich gegen die Patentierung gekämpft. Es gibt zahlreiche Fälle.

Welche Strategie verfolgen Sie also im Fall der Stevia-Pflanze?

Wir setzen derzeit vor allem auf die Bewusstseinsbildung, Information der Öffentlichkeit und Medien. Aber natürlich müssen auch juristische Schritte unternommen werden, um die Interessen der traditionellen Rechteinhaber zu wahren. Die Volksgruppe der Guaraní ist nicht ausgestorben, sie lebt in der Region und wird nicht auf ihre Rechte verzichten.

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