Streit ist unvermeidlich
EU-Gipfel geht aktuellen Konflikten nicht aus dem Weg, wird sie aber auch kaum lösen
Mutig ist das, was sich EU-Ratspräsident Donald Tusk für das Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag und Freitag in Brüssel vorgenommen hat. Denn im Programm wimmelt es nur so von Konfliktpotenzialen. Faktisch alle heißen Eisen, die es aktuell in der hohen EU-Politik gibt, will Tusk anpacken: Flüchtlingskrise und die neue Rolle der Grenzschutzagentur Frontex, möglicher Austritt von Großbritannien aus der EU, Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, Kampf gegen Terrorismus, Verhalten gegenüber Syrien und Verlängerung der Sanktionen gegen Russland.
Da scheint es schon im Vorfeld klar, dass mit durchschlagenden Ergebnissen nicht zu rechnen ist. Mit einem »Wir alle haben uns darauf geeinigt …«, wie es sinngemäß oft am Ende der Krisengipfel zu Euro- oder Griechenlandpolitik hieß, werden sich die Teilnehmer diesmal kaum aus Brüssel verabschieden. Grund ist die gereizte Stimmung zwischen den Partnern wegen des Migrationskurses: Unmut gegen Deutschland aufgrund der »Politik der offenen Arme« von Angela Merkel; die Klagen der Slowakei und Ungarns vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die beschlossenen EU-Flüchtlingsquoten; die praktische Nicht-Umsetzung der Umverteilung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland und die entsprechenden Mahnrufe der EU-Kommission; selbst Tusks Interview in fünf großen europäischen Zeitungen, in dem er dem »Wir schaffen das« von Merkel gleichsam ein »Wir sind überfordert« entgegenstellte. Plötzliche Einheit bei diesen Themen ist von den 28 Staats- und Regierungschefs nicht zu erwarten.
Zerstritten sind sie auch beim Vorschlag der EU-Kommission zur neuen Rolle von Frontex. Der Unmut vieler Staaten gegen den Vorschlag der Kommission, Frontex-Mitarbeiter als Grenzschützer notfalls auch gegen den Willen des Landes einzusetzen, in dem sie die Grenze schützen sollen, wird kaum abnehmen.
Tusk will trotzdem mit eben diesen Themen - Flüchtlingskrise und Frontex - den Gipfel beginnen. Es könnte also schon am Anfang hinter den wie immer bei solchen Treffen verschlossenen Türen heftig knallen.
Ähnliches ist beim zweiten großen Thema zu erwarten. Tusk fordert dafür sogar ganz offiziell in seinem Einladungsschreiben zu einer Debatte »ohne Tabus« auf - ganz so, als ob ihm Konfrontationen lieb wären. Es wird dann um die Forderungen von Großbritanniens Premier David Cameron nach Sonderregelungen für sein Land gehen, um den Briten den Verbleib in der EU schmackhaft zu machen. Zwar sind sich die 27 anderen Staaten im Grunde einig, dass man Großbritannien gerne in der Union halten will und dafür auch einige Zugeständnisse machen kann. Doch es gibt Grenzen. Die sind bei den sozialen Aspekten erreicht, konkret: bei der Gleichbehandlung aller EU-Bürger in allen EU-Ländern. Cameron will hier eine Änderung, nämlich nicht-britischen EU-Bürgern einige Sozialleistungen unter bestimmten Bedingungen vorenthalten. Tusk nennt das den schwierigsten Punkt der britischen Forderungen. Während des Abendessens am Donnerstag sollen sich die Partner austauschen. Konkrete Ergebnisse sind von vornherein erst für den Februar-Gipfel geplant.
Die von Tusk für Freitagvormittag geplante Debatte über die Vertiefung der Währungsunion ist kurzfristig auf den Gipfel im Juni 2016 verschoben worden. Hier ist es vor allem Deutschland, das sich gegen die Pläne einer gemeinsamen Einlagensicherung wehrt. Somit könnte mehr Zeit für Diskussionen über den Umgang mit der neu entflammten Terrorgefahr, die EU-Haltung gegenüber Syrien und den Vorschlag von Tusk bleiben, die Sanktionen gegen Russland wegen der mangelhaften Umsetzung des Abkommens von Minsk weitere sechs Monate zu verlängern.
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