USA: Obdachlosenelend steigt mit Wirtschaftsaufschwung
Amnesty-Schätzung: Ein Prozent der Bevölkerung ohne festen Wohnsitz / Fast 50 Millionen US-Amerikaner leben in Armut / Wohnraummangel oft politisch gewollt
578.000 Obdachlose zählte das US-Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung im Januar 2014 im ganzen Land. Doch die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen, Amnesty International ging 2011 von bis zu 3,5 Millionen Betroffenen landesweit aus, was knapp einem Prozent der US-Bevölkerung entspricht.
Obdachlosigkeit bleibt eines der drängendsten Probleme in den Vereinigten Staaten: 46,7 Millionen Menschen leben landesweit in Armut - das sind rund 15 Prozent der Bevölkerung eines Staates, der doch gerade einen langen Wirtschaftsaufschwung hinter sich hat. Aber von diesem Aufschwung profitieren finanziell im weniger Menschen.
Als »Konzentrationslager ohne Mauern« beschreibt Polizist Deon Joseph den Stadtteil Skid Row im Herzen von Los Angeles. 2000 bis 11.000 Obdachlose leben hier auf 54 Straßenblocks. Inmitten eines »Basars für Drogen« müssten die Leute versuchen, ihre Sucht hinter sich zu lassen. »Methamphetamin, Crack oder Spice: Stellen Sie sich vor, was das mit jemandem anstellt, der psychische Probleme hat.« Weil Gangs wie Crips oder Bloods sowie Zuhälter die Obdachlosen erpressen, wird vielen der Ausweg aus dem Teufelskreis unmöglich gemacht. »Jeder Block von Skid Row wird von irgendeiner Gang aus dem südlichen L.A. kontrolliert«, sagt Joseph.
Auch am anderen Ende der Vereinigten Staaten kämpfen Helfer gegen die Not auf der Straße. In der Millionenmetropole New York ist die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Sie liegt inzwischen über der aller anderen US-Städte und so hoch, wie seit der schweren Wirtschaftskrise der 1930er Jahre nicht mehr. Fast jeder fünfte Obdachlose lebt Behördenangaben zufolge in New York oder Los Angeles, danach folgen Las Vegas, Seattle und San Diego.
Bilanz eines hoffnungslos überforderten Sozialsystems
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Fast 60.000 Menschen schlafen nach Angaben von Hilfsorganisationen jede Nacht in einer Obdachlosenunterkunft in New York, mehr als ein Drittel von ihnen sind Kinder. Dazu kommen wohl viele Tausend weitere Obdachlose auf den Straßen, deren Zahl sich schwer schätzen lässt. Fast 60 Prozent der Obdachlosen halten sich in Manhattan auf. Knapp 90 Prozent haben afroamerikanische oder lateinamerikanische Wurzeln.
Selbstgemachter Wohnraummangel
Grund für den starken Anstieg ist Experten zufolge vor allem der extreme Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Dabei war der demokratische Bürgermeister Bill de Blasio vor zwei Jahren mit dem Versprechen angetreten, das Problem zu lösen. »Eine immer weiter zunehmende Obdachlosigkeit ist nicht akzeptabel für die Zukunft von New York«, hatte er gesagt. »Unter unserer Aufsicht wird das nicht passieren.«
Aber außer einigen Hundert zusätzlichen Betten in Notunterkünften kam von de Blasio bislang wenig und schon gar kein Masterplan zur Lösung des Problems. Hilfsorganisationen sind enttäuscht. »Das wird eine große, komplizierte Anstrengung«, musste de Blasio jüngst zugeben.
Viele wohlhabende Kommunen in den USA erlauben den Bau von Sozialwohnungen von vornherein nicht – oder machen sie durch Auflagen de facto unmöglich: Wenn neugebaute Häuser nur freistehend gebaut oder eine bestimmte Wohnfläche nicht unterschreiten dürfen. Und für einen Häuserbau oder -kauf werden an nicht-weiße Amerikaner deutlich weniger Kredite oder zu weitaus schlechteren Konditionen vergeben.
Und nun sorgt auch noch eine App für Diskussionen. Mit »Map the Homeless«, entwickelt von einem jungen Ingenieur aus Manhattan, sollen die Bewohner der Millionenmetropole die Aufenthaltsorte von Obdachlosen dokumentieren, am besten gleich mit Foto und etwaigen Vergehen wie aggressivem Verhalten oder Urinieren in der Öffentlichkeit. Das soll die lokalen Behörden dazu bringen, sich des Problems anzunehmen. In Wirklichkeit aber diskriminiere die App die Obdachlosen, kritisieren Hilfsorganisationen.
Täglich sind Helfer im Einsatz, um dem Hunger, der Kälte, dem Leid etwas entgegenzusetzen. »Das einzige Gegenmittel ist ein Zuhause«, sagt Philip Mangano, ehemaliger Direktor der US-Obdachlosenbehörde USICH. »Wenn Sie Obdachlose fragen, was sie eigentlich wollen, fragen diese nie nach einer Pille, einem Programm oder einem Protokoll. Sie fragen nach einem Platz, einem Platz zum Leben.« nd/mit dpa
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