Im Hungerstreik für Reisefreiheit
Die Republik Österreich entzog der türkischen Sozialistin Evin Timtik ihren Pass, weil sie eine Gefahr für die »innere und äußere Sicherheit« des Landes darstellt
In einem kleinen Zimmer in den Räumlichkeiten der Alevitischen Gemeinde Wien, unter zwei Ölgemälden der türkischen Revolutionäre Ibrahim Kaypakkaya und Mahir Cayan, sitzt Evin Timtik an einem Holztisch und trinkt Cay. Seit über 60 Tagen hat sie nichts gegessen. Sie hat abgenommen, man sieht ihr die Strapazen an. Doch sie wirkt nicht schwach. Sie spricht konzentriert und klar, Zuversicht und Mut sind eher in ihrer Stimme zu finden als Angst oder Resignation. Ungefährlich ist der Nahrungsentzug gleichwohl nicht. Ab dem 60. Tag wird es kritisch, bleibende Schäden sind nicht mehr auszuschließen.
Warum mutet die 35-Jährige ihrem Körper dieses Entbehrungen zu? Warum riskiert sie ihr Leben? Die Geschichte beginnt 2013. Als Mitglied der Anatolischen Föderation, eines europaweiten Zusammenschlusses von Migrantinnen und Migranten aus der Türkei, will sie von Österreich nach Deutschland zu einer Vereinssitzung reisen. »Wir waren mit dem Auto unterwegs. In Passau sind wir dann von der Polizei aufgehalten worden und ich wurde informiert, dass ich ein Einreiseverbot habe.« Timtik legte Einspruch gegen den Bescheid ein.
Im März 2015 stand die Verlängerung ihres Reisepasses an. Die wurde ihr nun von der Ausländerbehörde verweigert, mit der Angabe, sie würde die »innere und äußere Sicherheit« der Republik Österreich gefährden. Für Timtik, die seit fünf Jahren in Österreich als politischer Flüchtling aus der Türkei lebt, bedeutete diese Einschränkung das generelle Wegfallen ihrer Reisefreiheit. »Ich habe dann erneut Einspruch eingelegt, da das ja eine sehr abstrakte Begründung ist. Ich bekam zur Antwort, dass es für die Republik Österreich eine Gefährdung darstelle, wenn ich ins Ausland reisen könne.« Nach einem längeren Schriftwechsel mit diversen Behörden wurde Timtik davon in Kenntnis gesetzt, dass es eine Notiz des Innenministeriums zu ihrer Person gebe – die sei allerdings »geheim«. »Und weil es sich ja um einen geheimen Beschluss handle, könne ich ihn auch nicht anfechten«, so Timtik.
Alles Terroristen
Den politischen Hintergrund des Vorganges bildet eine seit vielen Jahren anhaltende, sich aber in jüngerer Zeit verschärfende Welle der Repression gegen die Anatolische Föderation und andere Gruppen und Einzelpersonen, die von diversen türkischen wie europäischen Geheimdiensten der illegalen Revolutionären Volksbefreiungsfront (DHKP-C) zugeordnet werden.
Die DHKP-C repräsentiert in der türkischen Linken eine Tradition, die durchaus als Massenbewegung in bestimmten Teilen des Landes gelten kann. Ihr programmatisches Ziel des Kampfes für eine unabhängige und sozialistische Türkei wird von breiteren Schichten der Linken geteilt. Der türkische Staat macht sich das zu Nutzen und beschuldigt umgekehrt alle, die ähnliche Ziele verfolgen wie die Volksbefreiungsfront der Sympathie mit bzw. Mitgliedschaft in einer »terroristischen Gruppierung«. Ähnlich wie bei der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), wo das gesamte zivilgesellschaftliche Umfeld der kurdischen Bewegung ebenfalls kurzerhand zu Unterstützern des »Terrors« erklärt wird, funktioniert auch bei dieser linken türkischen Gruppierung die willkürliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung als Immunisierung gegen jeden politischen und demokratischen Widerstand. Anwälte, Künstler, protestierende Schülerinnen und Schüler – die Palette an verhafteten vermeintlichen DHKP-C-Mitgliedern ist breit.
In Europa übernimmt man diese Kriminalisierungsstrategie der Regierung in Ankara und hilft damit dem autoritären Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan bei der Verfolgung der Opposition auch an jenen Orten, an denen der lange Arm des türkischen Repressionsapparates keinen Zugriff mehr hat.
Die Intensität der europäischen Beihilfe für Erdogan & Co. variiert je nach außenpolitischer Gewichtung der »Partnerschaft« mit der Türkei. Seit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise rückte Ankara erneut in den Mittelpunkt des Interesses, denn – vor allem, aber nicht allein – Deutschland sah im starken Mann vom Bosporus den Heilsbringer, der den europäischen Metropolen die Geflüchteten vom Leib halten sollte. So hieß der Deal: Erdogan sichert die Grenzen und bekommt dafür ein paar Milliarden Euro, möglicherweise Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger und engere politische Verhandlungen mit der EU. Ganz nebenbei sollte die Türkei, in der an mehr als einer Front bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, den Status eines »sicheren Herkunftslandes« und Support bei der Drangsalierung der Opposition bekommen.
Razzien, Einschüchterungsversuche, Einreiseverbote
Auch Evin Timtik hat den Eindruck, dass der Druck auf linke türkische Migranten wächst. Es sei zu bemerken, dass die Situation für die Exilopposition in Europa sich in den vergangenen Monaten und Jahren rasant verschlechtere, stellt Evin Timtik fest. »Es gibt eine Reihe von Repressionsmaßnahmen. Der Verfassungsschutz versucht, Konzerte zu verhindern, die wir unterstützen, es kommt zu Einschüchterungsversuchen, Razzien, zwei unserer Freunde wurden in Österreich verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert. Unser Familiencamp im vorvergangenen Sommer wurde von der Polizei gestürmt.«
Während einer Kundgebung zur Wiedererlangung ihres Passes hat man auch sie festgenommen, ein Polizeioffizier gab Auskunft, es gebe ein Ermittlungsverfahren gegen sie in Deutschland. »Das muss ein neues Verfahren sein, zumindest habe ich es davor nie mitbekommen.« Verwundert ist sie darüber, dass die österreichischen Behörden dieses Spiel mitspielen. »Ich bin in der Türkei wegen eines Vorwurfs der Mitgliedschaft in der DHKP-C 2006 verhaftet worden. Ich war dann ein Jahr in Haft, wurde dann auf freien Fuß gesetzt, aber der Prozess ging weiter. Am Ende wurde ich dann zu sechseinhalb Jahren verurteilt. Ich habe bei einem türkischen Gericht Einspruch eingelegt, aber es war abzusehen, dass das Urteil anerkannt werden würde, und so bin ich nach Österreich ausgereist.«
Ein Geheimnis habe sie nie aus ihrem politischen Engagement gemacht. »Der österreichische Staat wusste um meine Identität als Sozialistin. Ich habe sie in meinem Asylverfahren nie verheimlicht. Dieselbe Identität wird mir jetzt zum Vorwurf gemacht und ich werde als potentielle ›Terroristin‹ gebrandmarkt.«
Die einzige ist sie nicht. In Deutschland versuchen seit Mitte November gleich mehrere Behörden die in der Türkei vor einem Millionenpublikum auftretende linke Band Grup Yorum mundtot zu machen. Zuerst wurden zwölf Musiker der Gruppe auf Betreiben des Bundeskriminalamts (BKA) auf eine Liste des Schengener Informationssystems (SIS) gesetzt, das gesuchte oder »unerwünschte« Personen markiert. Die Band sollte am 14. November im Nordrhein-Westfälischen Oberhausen auftreten, ein aus der SIS-Listung erfolgendes Einreiseverbot verunmöglichte das. Gleichzeitig bekamen Mitglieder der Anatolischen Föderation Düsseldorf, als sie eine Kundgebung anmelden wollten, polizeiliche Bescheide, dass man ihnen wegen angeblicher Nähe zur DHKP-C das Recht entziehe, sich öffentlich zu versammeln. Weder dem Eintrag im Schengener Informationssystem, noch der Einschränkung der Versammlungsfreiheit gingen Gerichtsprozesse voraus. Nach dem Konzert, das nun von anderen Musikern aus dem Kollektiv rund um Grup Yorum bestritten wurde, folgten Razzien und Hausdurchsuchungen.
Kontaktschuld
Aber nicht allein die Anatolische Föderation oder Grup Yorum sind Ziele im Kampf gegen die Opposition gegen die AKP-Regierung in Ankara. Vereine wie die Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) sind betroffen, immer wieder auch zivile kurdische Gruppierungen, denen unterstellt wird, sie seien Tarnorganisationen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
In Österreich gerät sogar jene Institution in den Fokus, die Evin Timtiks Hungerstreik begleitet, die Föderation der Alevitischen Gemeinden in Österreich (AABF). Das ist insofern verwunderlich, als es sich bei der AABF im Unterschied zu ATIK oder der Anatolischen Föderation nicht in erster Linie um eine politische Vereinigung handelt, sondern um eine Religions- und Kulturgemeinde aller österreichischen Aleviten. Als solche sei es für sie selbstverständlich, zu helfen. »Wir sind eine Glaubensinstitution«, erklärt Ali Riza Yıldırım von der AABF. »Aber Alevitentum ist mehr als nur ein Glaube, sondern eine Lebensweise. Im historischen Kontext stand das Alevitentum immer auf der Seite der Unterdrückten gegen die Tyrannei. Unsere Pirs, unsere geistigen Führer, kamen an den Galgen, immer wieder gab es Massaker an Aleviten. Aus dieser Sicht ist für uns klar: Wer auch immer von einer Ungerechtigkeit betroffen ist, dem stehen unsere Türen offen.«
Diese Haltung trug der Alevitischen Gemeinde bereits selbst den Vorwurf der Unterstützung von »Terroristen« ein. Über längere Zeit wurde die AABF vom Verfassungsschutz beobachtet. »Wir wurden ein Jahr lang überwacht, unsere Telefone wurden abgehört. Die Vorwürfe haben sich als nichtig herausgestellt.« Bis heute ist es dennoch so, dass der österreichische Staat der AABF die Anerkennung als offizielle Religionsgemeinschaft verweigert. Die Föderation repräsentiert 13 Vereine und 10.000 Mitglieder. Gleichwohl entschieden sich die Behörden dafür, statt der AABF eine Abspaltung mit zwei Vereinen anzuerkennen, weil diese eine staatskonformere Haltung vermittelt.
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