Die dritte Heimat
Seit 20 Jahren informiert das Online-Portal HaGalil über jüdisches Leben
Ja ich kenne und benutze häufig das Portal. Die sind zuverlässig.« »Ich benutze sie, wenn ich Nachrichten aus der jüdischen Welt brauche.« »Es ist eine fantastische Webseite, sehr viele Informationen über jüdische Tradition, Geschichte, Religion, Aktivitäten.« Lobende Stimmen von drei Rabbinern aus Stuttgart, Berlin und Amsterdam über das deutschsprachige Online-Portal HaGalil. Der Name ist ein Wortspiel. Auf Hebräisch bedeutet es Galiläa. Gleichzeitig steckt darin aber auch der Nachname seines Gründers David Gall. Und der war alles andere als tief religiös. Der gebürtige Tübinger (1958) besaß die Staatsbürgerschaft Deutschlands und Israels. 1977 ging er nach Israel, um Pharmakologie zu studieren und um seinen Militärdienst in einem Arzneimittellager der Armee abzuleisten. In Deutschland hatte er sich nicht mehr wohl gefühlt. Er war es leid, als Jude ständig immer nur mit Totengedenken und Friedhöfen in Verbindung gebracht zu werden. Er wollte endlich ein lebendiges Judentum kennen lernen.
1992 kehrte Gall nach Deutschland zurück. Als Stichtag für die Gründung der Webeseite HaGalil gilt der 4. November 1995, der Tag, an dem Jitzhak Rabin ermordet wurde. »Diese Hetze gegen ihn, nur weil er allen Israelis gesagt hatte, dass die Juden in kein leeres Land gekommen seien, das konnte ich nicht mehr hinnehmen«, sagte Gall später. Schon damals kursierten seiner Meinung nach über das Judentum vor allem Falschinformationen. »Egal ob von Neonazis, Islamisten, christlichen Fundamentalisten, Antisemiten oder übereifrigen Philosemiten, alle streuten irgendwelche Gerüchte und Halbwahrheiten über Juden und ihre Religion ins Internet.«
Dem wollte er sein eigenes Hintergrundwissen entgegensetzen. Also begann er zusammen mit seiner Frau Eva Ehrlich von München aus damit, sich seine dritte Heimat aufzubauen, das virtuelle HaGalil. Immer öfter kamen Fragen von interessierten Bürgern zu allgemeinen Dingen des jüdischen Lebens. Da ging es nicht mehr nur um Holocaust oder die israelische Besatzungspolitik, sondern einfach darum, was denn genau Schabbath oder Pessach ist. Immer mehr Leute klickten sich auch aus dem Ausland bei hagalil.com ein. Da gab es alte Leute, die in den 1930er Jahren aus Nazi-Deutschland auswandern mussten und dann recht bewegt waren, wenn sie auf HaGalil stießen. Die Macher von HaGalil waren oft die ersten, die ihnen überhaupt seit der Nazizeit aus Deutschland geantwortet haben. Das Portal wurde zur Profession für die ganze Familie Galls. Es war immer viel zu viel Arbeit für viel zu wenig Leute. Und ständig war die persönliche Existenz gefährdet, nicht nur finanziell, sondern auch, weil Neonazis auf die wachsende Präsenz des jüdischen Online-Dienstes aufmerksam wurden. Es kam zu Hackerangriffen.
Vielleicht war all das über die Jahre zu viel. Im letzten Jahr starb David Gall überraschend in München. Seitdem führt seine Tochter Andrea Livnat von Tel Aviv aus HaGalil als Herausgeberin weiter. Immer wieder gibt es Rechtsstreitigkeiten wegen kritischer Artikel. Dafür hat das Portal ein kleines Budget zurückgelegt, um Anwaltskosten zu bezahlen. Die sehr geringen Werbeeinnahmen decken die Kosten nicht. Die Plattform lebt letztlich von Spenden.
»Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass wir eine Grundförderung bekommen. Es ist unheimlich schwierig, Stiftungen vom Nutzen eines Internet-Projektes zu überzeugen. Wenn kein Buch daraus wird, gilt es Stiftungen nicht als förderungswürdig«, klagt Livnat über die bürokratische Unbeweglichkeit deutscher Stiftungen.
Auch eine zeitweilige Förderung des Bundesfamilienministeriums wurde trotz Protestes wieder gestrichen. Dabei kann HaGalil auf bis zu einer Million Seitenaufrufe pro Monat verweisen. Auch 20 Jahre nach seiner Gründung hat HaGalil also nichts von seiner Bedeutung verloren. Auf jeden Fall will Andrea Livnat das Erbe fortführen. Denn es geht nicht nur um historisches Wissen und das Verwalten des riesigen Online-Archivs, sondern eben auch um aktuelle Fragen und Debatten: »HaGalil wird immer eine pluralistische Plattform bleiben. Man findet bei uns Positionen der Friedensbewegungen genau so wie offizielle Stellungnahmen von Netanjahu, man kann auf der Seite Ansprachen von liberalen Rabbinern ebenso lesen wie solche von Chabad-Rabbinern.«
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