Gute Gründe, mit der Türkei zu verhandeln
Yasar Aydin sieht in der Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen die Chance der Rückkehr zur Demokratisierung des Landes
In den vergangenen zehn Jahren kamen die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei kaum voran, weil die türkische Regierung viele Vorgaben nicht umsetzen wollte. Acht Verhandlungskapitel sind blockiert, davon sechs wegen Zypern. Verantwortlich für den Stillstand sind auch EU-Mitgliedsstaaten wie Frankreich, Österreich und Deutschland mit ihrer grundsätzlichen Türkei-Skepsis. Ankara rückte vom EU-Kurs ab, der Anteil der Beitrittsbefürworter in der Türkei ging deutlich zurück.
Jetzt will die EU-Kommission die Verhandlungen vorantreiben; kürzlich wurde das Kapitel »Wirtschafts- und Finanzpolitik« eröffnet, Anfang 2016 sollen fünf weitere folgen. Ein Vorstoß, der angesichts des Demokratieabbaus in der Türkei in Deutschland auf Kritik stößt.
Die Türkei hat sich in den letzten Jahren von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weiter entfernt. Die Presse- und Meinungsfreiheit wird eingeschränkt, die Regierung greift in die Unabhängigkeit von Polizei und Justiz ein, Menschenrechtsverletzungen haben wieder deutlich zugenommen und in der Kurdenfrage hat sich die Situation ebenfalls verschlechtert. Dass die EU trotzdem die Beitrittsverhandlungen ausweitet, hat in erster Linie mit der Flüchtlingskrise zu tun. Über die Türkei flüchten Menschen aus Irak und Syrien über die Balkanroute nach Westeuropa. Aufgrund der Schlüsselposition der Türkei ist Brüssel auf Kooperation angewiesen.
Der Annäherungskurs der EU passt auch ins wirtschaftliche Kalkül. In dem eröffneten Kapitel »Wirtschafts- und Finanzpolitik« geht es um die türkische Zentralbank, deren Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit durch politischen Druck unterminiert sind. Die Regierung mischt sich ein, wenn es um die Festsetzung des Inflationsziels geht, und sie setzt die Zentralbank unter Druck, um die Zinssätze niedrig zu halten. Die EU verlangt auch realistischere Wirtschaftsprognosen, wovon ausländische Investitionen abhängen. Wichtig ist für die in der Türkei tätigen europäischen Unternehmen auch Rechtssicherheit bei Investitionen, sie sind daher an Reformen in der Wirtschaftsgesetzgebung interessiert.
Das Kapitel »Wirtschafts- und Finanzpolitik« ist mit seinen unverfänglichen Themen geeignet, einen reibungslosen Wiedereinstieg in die Beitrittsverhandlungen zu ermöglichen. Doch der Deal Beitrittsperspektive gegen Kooperation bei der Flüchtlingsbekämpfung passt kaum in das Selbstbild der EU als »Wertegemeinschaft«.
Jenseits geostrategischer und wirtschaftlicher lassen sich auch plausible demokratietheoretische Argumente für die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei anführen. Wie die Protestwelle im Sommer 2013 und die Wahlbeobachtungsinitiative »Stimme und mehr« zeigten, gibt es in der Türkei eine starke, pro-westlich orientierte demokratische Zivilgesellschaft, die erst durch die im Jahr 1999 eröffnete Beitrittsperspektive und die folgenden Reformen entstehen konnte. Bewegung in den Beitrittsverhandlungen eröffnet der EU die Chance, diese Zivilgesellschaft als Grundlage einer funktionierenden Demokratie weiter zu stärken. Eine Aussetzung der Beitrittsverhandlungen, wie sie einige befürworten, würde die autoritär regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) kaum veranlassen, auf den Pfad der Demokratisierung zurückzukehren. Zudem würde sie einer Bestrafung demokratischer Kräfte gleichkommen und Resignation in ihren Reihen hervorrufen.
In vielen europäischen Staaten leben transnational orientierte türkische Migranten, die sich zu den jeweiligen Mehrheitskulturen zugehörig fühlen, ohne sich von ihrer Herkunftskultur zu distanzieren. Die Eröffnung neuer Kapitel und die Aussicht auf eine Visaerleichterung für türkische Staatsbürger haben positive Signalwirkung auf die Türkeistämmigen in Deutschland. Ob es der EU-Kommission gelingt, die Beitrittsverhandlungen voranzubringen ohne von Demokratieabbau und Menschenrechtsverletzungen abzulenken, bleibt abzuwarten.
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