Ein Blick für die Schwächsten
Im Kino: »Die Kinder des Fechters«
Die skandinavisch-baltische Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt Klaus Härö nicht los, wobei er stets die schwächsten der Gesellschaft und Heranwachsende im Blick hat. »Ich liebe die Arbeit mit Kindern. Es ist viel Arbeit und eine spezielle Herausforderung. Aber wenn man sie annimmt und ihnen vertraut, erreichen sie mit ihrer Natürlichkeit unsere Herzen,« erklärt der Regisseur, dessen jüngster Film »Die Kinder des Fechters« ins Estland nach Ende des 2. Weltkriegs führt.
»Wie eine Familie oder die Gesellschaft die Kinder behandeln, hält uns den Spiegel vor. In der stalinistischen Ära wuchsen viele Kinder ohne Vater auf. Die Mütter hatten keine Wahl. Sie mussten arbeiten. Die Großeltern waren für die Kinder da. Aber wir haben heute die Wahl,« begründet Härö seine Vorliebe für die Beschäftigung mit Kinderschicksalen. Er ist selbst in einer Mittelklassefamilie als Einzelkind aufgewachsen. Heute hat er fünf Kinder. »Wir können noch so oft betonen, wie sehr wir unsere Kinder lieben. Man erkennt uns daran, wie wir unsere Zeit einteilen. Viele von uns sind Worcoholics. Ich frage mich immer, ist unsere Arbeit wirklich so wichtig? Lieben wir unsere Arbeit mehr als unsere Kinder? Und wie gehen wir mit unseren Eltern um, deren Kinder wir bleiben.«
»Die Kinder des Fechters« führt in eine kleine, dunkle Küstenstadt Estlands zu Beginn der 50er Jahre. Gegen den Rat des Direktors und seiner Kollegen gründet der neue Sportlehrer Endel (Märt Avandi) einen Fecht-Klub. Der Sportart haftet das negative Image an. Die vom Krieg traumatisierten und meist vaterlos aufwachsenden Jungen und Mädchen blühen auf und tanken in den Trainings-Stunden Selbstbewusstsein. Als sie in der Zeitung von einem nationalen Schülerwettbern in Leningrad lesen, stachelt dies ihren Ehrgeiz an. Sie wollen unbedingt dabei sein. Endel stellt ihr Traum vor eine schwere Entscheidung. Seine Tarnung könnte auffliegen. Er versteckt sich vor Stalins Geheimpolizei, die ihn auf die Fahndungsliste setzte, weil er von den deutschen Faschisten zum Dienst in der Wehrmacht gezwungen wurde. »Die Deutschen haben die jungen Männer eingezogen. Nach dem Sieg Stalins galten sie als Feinde des Staates. Sie wurden Waldbrüder genannt, weil sie sich in den Wäldern, Scheunen, Höhlen oder Verschlägen versteckten. Der KGB hat sie alle geschnappt. Ein alter Mann wurde erst in den 1970er beim Angeln überrascht.« erklärt Härö zum historischen Hintergrund zur Persönlichkeit des Lehrers.
Beinahe hätte er das Projekt abgelehnt. »Als ich von den finnischen Produzenten gefragt wurde, ob ich das Buch lesen möchte, wollte ich nur höflich sein. Ich hatte von Estland und seiner Geschichte keinen Schimmer. Nach 15 Seiten war ich gefesselt« gesteht der Regisseur anlässlich der deutschen Premiere von auf dem Filmfest in München. Ihre Wahl ist nicht zufällig auf Klaus Härö gefallen. Kinder und Halbwüchsige sind in seinen Filmen meist stille Helden und Opfer zugleich. Ihre Seelen sind wie die der Eltern vom Leid unter Krieg, Trennung und Verfolgung gezeichnet. In »Die Kinder des Fechters« zeichnet er präzis die Atmosphäre in einer Stadt, aus der Dutzende Menschen verschwunden sind, in dem gespitzelt und gelauscht wird. Alle haben Angst, dass es an der Tür klopft und die Menschen in Sibirien verschwinden.
»Es war ein universeller, nachvollziehbarer Konflikt eines Mannes, der sich vorgenommen hatte, sich aus allem herauszuhalten. Aber dann nicht anders kann, als sich einzumischen, um den Kindern Hoffnung zu geben. Das Fechten gibt den Kindern ein Ziel,« denkt Härö, der auch erklärt, warum das Fechten so verhasst war. »Dieser elegante Sport galt zum einen als bürgerlich und dekadent, zum anderen als Überbleibsel der Deutschen, die die Geschichte Estlands lange mit bestimmten. Diese europäischen Wurzeln wollte Stalin kappen.«
Härö führt mit seinen Filmen nicht das erste Mal in jene Ära. Während des Zweiten Weltkriegs wurden 70.000 finnische Kinder in Pflegefamilien untergebracht. Davon erzählt der autobiografische Roman »Die beste Mutter« von Heikki Hietamies, den Härö 2005 mit beeindruckenden Bildern und emotional aufrüttelnd adaptierte. Mit »Elina«, dem Porträt eines Mädchens aus einer armen Familie, das um seinen Vater trauert, hatte er 2002 Spielfilm-Debüt gegeben. Der Film, Gewinner des Goldenen Bären 2003, brachte Kindern den Tod als Teil des Lebens nahe.
In Den nya människan, 2007, widmete sich Klaus Härö einem der düsteren Kapitel der schwedischen Geschichte, der Zwangssterilisation von Heranwachsenden aus armen Verhältnissen. Er folgt der Teenagerin Gertrud, bei der der Eingriff 1951 vorgenommen werden soll. Wenige Tage zuvor erfährt sie von ihrer Schwangerschaft.
Nun also Tartu in Estland, ein kleines Land, dessen Sprache Härö nicht beherrscht und von dem er nichts wusste. »Ich konnte die Aussprache nicht kontrollieren und musste meinen Assistenten vertrauen. Schlimmer war es, dass ich mit den Schauspielern nicht kommunizieren konnte. Mit Dolmetschern dauerte es ewig. Wir haben uns dann auf ein System mit ein paar Brocken Englisch, Händen und Füßen geeinigt.«
Das Resultat hat überzeugt, in Estland und Finnland zog der Film Tausende in die Kinos. Vor wenigen Tagen wurde »Die Kinder des Fechters« von den Journalisten in Hollywood für den Golden Globe als bester nichtenglischsprachiger Film nominiert. Auch die Oscar-Juroren überzeugte er. Sie wählten ihn auf die Shortlist der besten neun Filme.
Die Ehrungen werden hoffentlich Härös geplantes Projekt um ein vergessenes Kapitel der deutsch-finnischen Geschichte erleichtern. »King of Finnland« erzählt von den Bemühungen Finnlands nach der Unabhängigkeit einen Monarchen an den europäischen Höfen zu rekrutieren. Nachdem Skandinavier und Rumänen ablehnten, fiel die Wahl auf Friedrich von Hessen, den Schwager des letzten deutschen Kaisers. Er tauschte sein Schloss gegen ein einfaches Haus in Helsinki, lernte fleißig Finnisch und konnte den Thron doch nicht besteigen. Nach der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg entschieden sich die Finnen für ein Präsidialsystem.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.