So viel Streik war lange nicht

Im Tarifkalender für 2016 stehen Auseinandersetzungen über Personal und Lohn an

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 4 Min.
2015 wurde in Deutschland so viel gestreikt wie seit 20 Jahren nicht. Doch vor der Tarifrunde ist nach der Tarifrunde. Auch 2016 stehen zahlreiche Auseinandersetzungen über Lohnhöhe und Arbeitszeit an.

Dass hierzulande abhängig Beschäftigte aus der Zuschauerrolle heraustreten und ihre Interessen wahrnehmen können, haben Hunderttausende in den Streikbewegungen 2015 unter Beweis gestellt. Auch der Tarifkalender 2016 birgt reichlich Zündstoff und weckt bei Gewerkschaftern Hoffnungen auf einen »kräftigen Schluck aus der Pulle« durch Lohnerhöhungen deutlich über der Inflationsrate.

Gleich in den ersten Monaten des neuen Jahres dürfte sich das Interesse auf die beiden mit Abstand größten Tarifbereiche konzentrieren: den Öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden (ÖD) und die zunehmend zur wirtschaftlichen Schlüsselbranche gewordene Metall- und Elektroindustrie. Im Öffentlichen Dienst kann das bestehende Tarifwerk schon zu Ende Februar gekündigt werden, die Metall- und Elektroindustrie folgt im März.

Für die IG Metall gehe es in der Metall- und Elektrobranche mit ihren rund 3,8 Millionen Beschäftigten aller Voraussicht nach ausschließlich um mehr Geld, sagte unlängst der neue IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann. Zwar hatte er beim Gewerkschaftstag im Oktober 2015 auch eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung zu einem Schwerpunkt erklärt. Darüber werde man jedoch 2016 zunächst in der Organisation diskutieren und einen tarifpolitischen Zielkatalog aufstellen, so Hofmann.

Im ÖD-Bereich, wo anders als in der Industrie Streiks für die Bevölkerung oftmals spürbar sind und schnell zum Politikum werden können, rüstet man sich bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di auch inhaltlich für den Konflikt. So ist der vermeintliche »Sachzwang« knapper öffentlicher Kassen für ver.di-Verhandlungsführer Wolfgang Pieper eine Folge »verfehlter Steuerpolitik« der Bundesregierung, die endlich für bessere Kommunalfinanzen sorgen müsse. »Überall ist Personal knapp, weil oft freiwerdende Stellen nicht wieder besetzt wurden«, beschreibt er die Lage. Statt Privatisierung öffentlicher Aufgaben sei eine Rückholung unter das kommunale Dach nötig, so Pieper. Konfliktstoff dürfte auch die Absicht der kommunalen Arbeitgeber bilden, die Betriebsrenten zu kürzen.

Zu wichtigen Bereichen, in denen 2016 eine neue Tarifrunde ansteht, gehören zudem die Deutsche Telekom, die Chemieindustrie, das Bauhauptgewerbe, das Bankgewerbe, der Volkswagenkonzern, die Deutsche Bahn sowie die in ver.di organisierte Druckindustrie und die Papier und Pappe verarbeitende Industrie. In bayerischen Bierbrauereien, für die Ende Februar der Kündigungstermin ansteht, hat die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) bereits in früheren Jahren eindrucksvolle Arbeitskämpfe hingelegt. In seinem Organisationsbereich strebt NGG-Vizechef Claus-Harald Güster Regelungen an, mit denen Beschäftigte die Regelaltersrente gesund erreichen und jungen Menschen eine qualifizierte Ausbildung und Übernahme gesichert wird.

2015 verzeichneten die Statistiker in Deutschland Rekordwerte bei Streiktagen und Streikenden wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Überragend waren dabei die Arbeitskämpfe in den Sozial- und Erziehungsdiensten und bei der Deutschen Post sowie Streiks beim Versandhändler Amazon, der Deutschen Bahn und der Lufthansa. Den Löwenanteil erbrachte ver.di, während sich die großen Industriegewerkschaften IG Metall und IG BCE seit geraumer Zeit zurückhaltender geben. Die letzte offensive westdeutsche IG Metall-Streikbewegung für den Einstieg in die 35-Stunden-Woche liegt gut drei Jahrzehnte zurück. 2003 musste der ostdeutsche Streik für die 35-Stunden-Woche abgebrochen werden, weil die Kraft nicht reichte und die Solidarität der westdeutschen Autobetriebsräte fehlte.

Jahrzehntelang wurden die ÖD-Tarifverhandlungen für Bund, Länder und Gemeinden sowie die einstigen Bundesbehörden Bahn, Post und Telekom zentral geführt. Beim bundesweiten ÖD-Arbeitskampf im Frühjahr 1992, der elf Tage dauerte, kamen 5,4 Prozent mehr Lohn und Gehalt und 200 DM mehr Urlaubsgeld heraus, was damals nicht alle Gewerkschafter zufriedenstellte. Seither haben Privatisierung, Ausgliederung und Zerschlagung öffentlicher Betriebe und Verwaltungen zu einer Fragmentierung der einstmals zentralisierten Tariflandschaft geführt. Viele hauptamtliche Gewerkschafter eilen im Alltag inzwischen von Tarifverhandlung zu Tarifverhandlung. Der Öffentliche Dienst der Länder bildet seit Jahren einen separaten Tarifbereich mit unterschiedlicher Laufzeit. Hier ist der nächste Kündigungstermin erst in einem Jahr - am 31. Dezember 2016.

Quer durch nahezu alle Branchen macht seit den 1990er Jahren auch die anhaltende Tarifflucht den Gewerkschaften zu schaffen. So beträgt laut IG Metall die Flächentarifbindung in der Metall- und Elektroindustrie in Bayern noch 70 Prozent, in Sachsen nur noch 20 Prozent. Im Fahrzeugbau liegt sie bundesweit bei 70 Prozent, in der Möbelindustrie bei unter 30 Prozent und im Kfz-Handwerk bei rund 20 Prozent. Für Millionen Arbeitnehmer bringt dies in aller Regel schlechtere Einkommen, Arbeitszeiten, Urlaubsansprüche und Sozialleistungen. Mit dieser Erosion ist schleichend teilweise eingetreten, was der damalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Michael Rogowski, 2003 verkündet hatte: »Man müsste Lagerfeuer machen und die ganzen Flächentarifverträge verbrennen.« Allerdings konnten quer durch die Republik in etlichen Betrieben durch einen zähen »Häuserkampf« auch Tarifflucht verhindert und der Flächentarif erhalten werden.

Die Verteidigung des gesetzlichen Mindestlohns und Eindämmung prekärer Arbeitsverhältnisse, die Millionen Menschen erfasst haben, dürften 2016 eine große Herausforderung darstellen. Ob das von der Mehrheit im DGB begrüßte neue Tarifeinheitsgesetz der Bundesregierung das Streikrecht und die Kraft der DGB-Gewerkschaften zur Aushandlung guter Flächentarifverträge tatsächlich auf Dauer verteidigt, wird die Praxis zeigen.

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