Falsche Hoffnungen

Burak Çopur zu den Verhandlungen der EU mit der Türkei - eine Replik auf Yaşar Aydın

  • Burak Çopur
  • Lesedauer: 4 Min.

Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind ein scheinheiliges Spiel von beiden Seiten. Längst ist klar, dass der Zug nach Brüssel unter diesen Bedingungen vor Jahren abgefahren ist - beide Parteien haben daran ihren Anteil.

Ohne Zweifel war die EU von 1999 bis 2005 die treibende Kraft des Demokratisierungsprozesses der Türkei. Der Katalysatoreffekt wirkte aber nur, solange eine glaubwürdige Beitrittsperspektive für Ankara bestand. Mit dem Regierungswechsel in Deutschland 2005 und in Frankreich 2007 ist man jedoch von einer ernst gemeinten EU-Mitgliedschaftspolitik für die Türkei zu einer verlogenen Partnerschaftspolitik übergegangen (»privilegierte Partnerschaft«). Dieser außenpolitische Wandel zeugt von Engstirnigkeit und Leichtsinn - die Türkei ist für die EU ein wichtiges Land, wie die aktuelle Flüchtlingskrise zeigt.

Das ist nun auch der Vorwand für die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen, die doch aus ganz anderen Gründen erneut ins Stocken kommen können. So hängt die Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel etwa an einer Befriedung des Zypern-Konflikts. Viel wichtiger ist aber, dass die den EU-Verhandlungskapiteln zugrunde liegenden Werte und Normen Lichtjahre von denen des Erdoğan-Regimes entfernt sind. Der aus Rücksicht auf die Befindlichkeiten Ankaras erst nach den Wahlen im November veröffentlichte EU-Fortschrittsbericht zeigt das sehr deutlich.

Das türkisch-europäische Verhältnis gleicht seit langem einer entfremdeten Zweckbeziehung. Und längst hat die Führung in Ankara andere Pläne: Eine sich unter dem Erdoğan-Regime zu einer vermeintlichen »ottomanischen Großmacht« entwickelnde Türkei hat wenig Interesse, einen Teil ihrer nationalen Souveränität an die EU abzutreten und ihre Macht mit zerstrittenen Unionsmitgliedern zu teilen.

Wie mein Kollege Yaşar Aydın zutreffend in seinem an dieser Stelle vor einer Woche erschienenen Gastbeitrag (»Gute Gründe mit der Türkei zu verhandeln«) beschreibt, war die EU für die türkische Zivilgesellschaft lange Zeit der Hoffnungsträger für die Etablierung einer liberalen Demokratie. Aber seine These ist nicht plausibel, wenn er behauptet, mit der Aussetzung der EU-Verhandlungen würde sich die Demokratiebewegung in der Türkei »bestraft« fühlen.

Den größten Schlag ins Gesicht hat Brüssel den Oppositionellen mit dem jüngsten Deal in der Flüchtlingsfrage durch das geschmacklose Hofieren des Regimes verpasst. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel wäre gut beraten gewesen, nicht aus Rücksicht auf Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Opposition bei ihrem letzten Türkei-Besuch auszugrenzen.

Die noch verbliebenen progressiven Demokraten im Lande sind von Europa zutiefst enttäuscht und enorm geschwächt. Sie glauben nicht mehr an die Anziehungskraft und Attraktivität der EU. Und ob die Verhandlungen ausgesetzt werden oder nicht, ist sowohl für das Regime in Ankara als auch für die Zivilgesellschaft so bedeutend wie der sprichwörtlich umfallende Sack Reis in China.

Die Türkei hat derzeit andere Probleme. In den Kurdengebieten herrscht ein erbitterter Staatsterror. Hunderte unschuldige Zivilisten werden wahllos umgebracht, ein drei Monate altes Baby starb vor Kurzem durch einen türkischen Scharfschützen. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sprach davon, die kurdischen Städte »Haus für Haus zu säubern«. Obwohl die Türkei hier ganz offensichtlich gegen das IV. Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten verstößt, steckt der Westen weiter den Kopf in den Sand. Es gibt ernstzunehmende Hinweise darauf, dass das türkische Vorgehen genozidale Züge aufweist. Schon vor hundert Jahren spielte Deutschland aufgrund der Bündnissolidarität mit seiner Duldung des osmanischen Massakers an den Armeniern (1915) eine sehr unrühmliche Rolle. Diesmal sollte Berlin auf seine Vogel-Strauß-Politik verzichten und nicht abwarten, bis das türkische Regime das brutale »Sri-Lanka-Modell« auf die Kurden anwendet.

Erdoğans Machtpolitik führt unmissverständlich vor Augen, dass es mit einer unter seiner Kontrolle stehenden AKP - auch bedingt durch die schwerwiegenden Korruptionsvorwürfe und eklatanten Menschenrechtsverletzungen - kein Zurück zur Demokratie und zum Rechtsstaat geben wird. Folglich könnten nur eine Stärkung der Opposition von CHP bzw. HDP und ein Wechsel der parlamentarischen Mehrheiten bei den nächsten Wahlen zu einem dann hoffentlich ernst gemeinten Neustart in den europäisch-türkischen Beziehungen führen.

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