Werbung

Ein Kreuz für die Ertrunkenen

Martin Leidenfrost möchte an Flüchtlinge erinnern, die einst an der österreichisch-slowakischen Grenze gestorben sind

  • Lesedauer: 4 Min.

Die durchnässten Flüchtlinge müssen in der nächtlichen Au erschaudert sein: Am Ziel angekommen, hörten sie modriges Totholz knacken, und im Nebel zeichneten sich bizarre meterbreite Stämme unnatürlich in die Breite gestutzter Bäume ab. Lebend deformierte Stämme, aus denen auf Mannhöhe Hunderte Äste abzweigen, zerfurchte, ausgehöhlte, fratzenschneidende Stämme. Die Plantage der Kopfweiden in den Auen des Grenzflusses March: ein Grusel.

Am Ende dieses Jahres denke ich an die Zeit, als die Schengen-Grenze zwischen Österreich und der Slowakei verlief, als die March das Mittelmeer von heute war. 2001/2002 setzten jeden Tag im Durchschnitt 25 Flüchtlinge über die March, um in Österreich um Asyl anzusuchen. Schon damals waren viele Afghanen und Iraker unter ihnen. Sie wurden von den Schleppern meist in der Flussmitte ausgesetzt. Schon damals sind einige ertrunken. Die damaligen Nachrichten werden auf Google von den aktuellen Flüchtlingsberichten zugedeckt: 17 ertrunkene Inder am slowakisch-tschechischen Abschnitt der March, auf Marchinsel vergessene Frauen beklagen Vermissten, vietnamesisches Kind ertrunken.

Mehr ist kaum noch zu finden. Ich suche Spuren dieser Ertrunkenen. Erinnerungen, Denkmäler, Gräber.
Im Januar 2002 wurde von einem Somalier berichtet, der offenbar im eiskalten Wasser beim Ort Markthof ertrank. Am Ende einer Stichstraße gelegen, nahe der Mündung der March in die Donau, ist Markthof Österreichs totes Ende. Nun, da die Flüchtlinge längst auf anderen Routen kommen, liest ein Nigerianer in Markthof die Messe, mir aber antwortet die Küsterin, 68, seit 30 Jahren in dem brotlosen »Gschäft«. Sie sieht auch einen Vorteil darin, dass »nach vorn nur noch Wasser is«; so waren zwei Slowaken, welche angeblich »die Oma besuchen« wollten und dabei Bohrmaschinen aus einem Markthofer Rohbau in Tüten mit sich führten, gleich verhaftet. Die Küsterin sagt, sie habe nie von einem ertrunkenen Somalier gehört. Die wenigen von der March Angeschwemmten seien stets weggebracht worden. In ihren 30 Jahren »ist sicher kein ertrunkener Flüchtling in Markthof begraben worden«.
Ich rufe die Bestattung an, welche die untere March betreut. Der Chef erzählt in herzerfrischendem Bestatterjargon von den in der Donau viel häufiger auftretenden Wasserleichen – »jetzt haums gschriang, dass er scho stinkt«. Was Leichen aus der March angeht, kann er sich erinnern, »dass wir in Markthof irgendaan begraben haben. Wars a Iraner oder a Iraker?«

Ich nehme die Fähre ans slowakische Ufer. Allein 2001 zählte der Grenzdienst des Landkreises Gänserndorf 6598 aufgegriffene Illegale, der alte Fährmann von Záhorská Ves streitet derlei aber entschieden ab: »Über die March sind keine Flüchtlinge gekommen.« Ein alter slowakischer Anwohner, der gerade mit dem Fährmann plaudert, bestätigt: »Das ist unmöglich. Als das Schengen-Grenze war, kam nicht mal eine Maus rüber.« Die beiden sind nicht die einzigen, die nichts bemerkt haben.
Ich fahre in das Dorf, das sich als einziges unmittelbar an die March schmiegt. Die EU-Förderung, die der österreichische Kanzler Faymann der Slowakei wegen ihrer Ablehnung der Flüchtlingsquote kürzen will, hat Vysoká pri Morave eine revitalisierte Straße verschafft; die neuen Parkbänke wurden so unkonventionell aufgestellt, dass man von ihnen auf Hausmauern glotzt. »Das ist eine sozialistische Gemeinde«, sagt der Pfarrer, »sie blickten gerne auf den Eisernen Vorhang.« Die Küsterin, 77, macht das Geschäft zwar erst drei Jahre, als Alteingesessene gibt sie sich aber vollkommen überzeugt, dass es auf dem Friedhof von Vysoká nur »normale ordentliche Gräber« gibt, mit Namen. Der letzte Namenlose war angeblich ein Deutscher aus dem Krieg.

Schließlich stehe ich auf dem Markthofer Friedhof. In einem der namenlosen Gräber ist wohl ein ertrunkener Flüchtling begraben. Ich blicke über die Äcker, Sedimente der Geschichte überlagern einander. Vor den Kopfweiden die »Kuruzenschanze«, 1707 gegen ungarische Aufständische errichtet; Schloss Hof, aus Prinz Eugens Honorar für die Türkenvertreibung finanziert; gegenüber in Devín ein Denkmal, das die Namen der 280 zwischen 1948 und 1989 umgekommenen tschechoslowakischen Republikflüchtlinge nennt. An die Toten der March, als sie Schengen-Grenze war, erinnert nichts. Niemand kann mir sagen, wieviele ertranken. Wollen wir ihnen nicht wenigstens ein Kreuz widmen?

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Expedition Europa