Zeit der Zärtlichkeit
Eine kulturhistorische Prachtschau: die Rokoko-Ausstellung »Gefährliche Liebschaften« im Liebighaus Frankfurt am Main
Auf nach Kythera! Der Kahn zur Überfahrt steht bereit, gesteuert von Putten. Schließlich ist Kythera die Insel der Venus, ein Paradies der Lust, ein sexuelles Utopia. Mit seiner galanten Gesellschaft, die zur Reise in diese erotische Anderswelt aufbricht, gelang dem französischen Maler Antoine Watteau das Auftaktbild zu einer ganzen Epoche: Das Rokoko wurde eine Zeit der Zärtlichkeit. Die erste Fassung von Watteaus berühmter »Einschiffung nach Kythera« gehört seit Langem dem Städelmuseum in Frankfurt am Main. Nun ist das Gemälde ins benachbarte Liebieghaus umgezogen, wo eine kulturhistorische Prachtschau Zuneigung und Intimität im Frankreich des frühen 18. Jahrhunderts erforscht.
Mit dem Tod des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. beginnen sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in ganz Frankreich zu wandeln. Während der sogenannten Régence (der geschäftsführenden Regentschaft des Herzogs von Orléans) und dann unter Ludwig XV. wird das höfische Leben lockerer und privater. Der Adel verlässt das Epizentrum Versailles, um sich in der Provinz an ländlichen Festen und neckischen Schäferspielen zu ergötzen. Ein kultureller Szenenwechsel, den auch das mythologische Bildprogramm spiegelt. Nicht mehr der keulenschwingende Herkules oder der waffenstrotzende Mars war das bevorzugte Motiv der Künstler, sondern der Kindsgott Amor.
Und den schönsten aller Erosknaben gab bezeichnenderweise Madame de Pompadour in Auftrag. Für den Garten der königlichen Mätresse schuf der Bildhauer Étienne-Maurice Falconet seinen vielfach kopierten »Drohenden Amor«. Drohend deshalb, weil der putzige Marmorknirps daran erinnert, dass alles, was in Amors Reich geschieht, dem Gebot der Verschwiegenheit unterliegt. Während die linke Hand nach einem Pfeil im Köcher greift, legt die rechte gebieterisch den Zeigefinger auf die Lippen. Die Botschaft: Schweigen und genießen, über Liebe spricht man nicht.
Was der theoriegeschulte Kunstfreund von heute freilich anders sehen könnte. Laut einem Wissenschaftsklassiker des Soziologen Niklas Luhmann besteht die Liebe nämlich aus nichts anderem als aus Worten und Sätzen, sie ist ein Kommunikationscode. Wer sich aber genauer auf die rund 80 Leihgaben der Schau einlässt, der wird auch aus der visuellen Sprache des Rokoko eine Liebessemantik im Luhmann’schen Sinne heraushorchen. Zierlich geneigte Köpfchen und kniende Kavaliere, Hände, die abwehrend »Nein« sagen, während ein schmachtender Blick schon längst »Ja« geflüstert hat.
So hat etwa der Keramikkünstler Jean-Jacques Bachelier den Zauber des Zusammenkommens in edles Biskuitporzellan gebrannt. In den Gemälden François Bouchers hingegen ruht auch schon einmal ein Damenunterarm auf einem Jünglingsschenkel. Jean-Honoré Fragonard schließlich verleiht dem unschuldig auf der Wippe in die Luft steigenden Mädchen eine pikante Unternote, indem der aufflatternde Rock ein Stück nacktes Bein zu erkennen gibt. Denn die Strategie des Rokoko war die der Andeutung, wenn auch der eindeutigen.
Zu kurz kommt bei all dem der Blick hinter die Kulissen des aristokratischen Theaters. Vielleicht hätte der Schau ein wenig Ideologiekritik gut getan. Ist doch die vorgeblich neue Natürlichkeit des Hirten- und Schäfermummenschanzes nichts anderes als die luxuriöse Selbstinszenierung einer herrschenden Klasse, welche den Untertanen ähnliche Freizeitvergnügen verweigerte. Ihren realen Kontrast fanden Zierlichkeit und Zerbrechlichkeit in einem absolutistischen Unterdrückungssystem, das längst nicht so zimperlich war wie die Statuetten auf seinen Kaminsimsen.
Angesichts des Ausstellungsmottos »Gefährliche Liebschaften« hätte man mehr Aufklärung über den doppelten Boden des empfindsamen Regimes erwartet. Doch von jener moralischen Verlottertheit des Adels, wie sie der gleichnamige (mit John Malkovich verfilmte) Briefroman von Choderlos de Laclos offenbart, erfährt der Besucher recht wenig. Die einzige Liebesgefahr, vor der die Bilder des Rokokoreigens warnen, scheint die der verlorenen Unschuld zu sein. Allegorisch verbrämt wird sie in biederen Sittenbildern von stolpernden, also »gefallenen« Mädchen und zerbrochenen Holzschuhen.
Dennoch überzeugt der kuratorische Versuch, gängige Vorurteile gegenüber dem Rokoko zu entkräften: Gemeinhin gilt der Stil, dessen Name sich vom Muschelornament, der Rocaille, herleitet, als affektiert und in Dekorationswut erstarrt. Besonders dem neuen Trendmaterial Porzellan geben viele die Schuld an der Verflachung der Kleinplastik zum Nippes.
Die Frankfurter nun stellen in der Konfrontation mit Beispielen aus Deutschland unmissverständlich klar, wer für die Verkitschung des Rokoko haftbar zu machen ist: Rokoko-Epigonen wie Laurentius Russinger oder Johann Joachim Kändler. Gingen die hiesigen Manufakturmeister doch dazu über, all das bunt zu bemalen, was bei Bachelier noch in blütenreinem Weiß leuchtet und den ästhetischen Rang von Marmorskulpturen erreicht.
Demgegenüber schuf die in Frankenthal oder Meißen gepflegte Glasurpraxis vor allem kostbar-leblose Porzellanpüppchen wie die aus Johann Friedrich Lücks doppeldeutigem »Flötenunterricht«, dem gleichwohl ein französisches Gemäldemotiv zu Grunde lag. Denn in Liebesdingen war Paris damals wie heute der Nabel der Welt.
Bis 28.3., Schaumainkai 71, Frankfurt am Main, Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr.
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