Regierungsauftrag wurde zur Mission Vaterland
Fiktive Mehrheit treibt die Kaczynski-Truppe zu ungewöhnlicher Eile / Jugend besonders anfällig für nationale Legendenbildungen
Niemand in und außerhalb Polens bezweifelt, dass die beiden glänzenden Wahlsiege der Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) im Jahre 2015 auf Mehrheitsentscheidungen zurückgehen. Kaum jemand hatte den Nationalkonservativen vor Jahresfrist einen solchen Triumphzug zugetraut, vielleicht nicht einmal Jarosław Kaczyński selbst.
Auch in anderen Ländern ist es normal, eine Regierung nach acht Jahren Amtszeit abzuwählen. Auf der damaligen Regierungsseite gab es tatsächliche wirtschaftliche Erfolge und unverkennbare Fortschritte bei der EU-Integration. Allerdings zählte auch oft genug das Kaczyński-Schreckgespenst als erfolgreiche innenpolitische Waffe.
Eine ausreichende Mehrheit, so schien es lange, wollte keinen zweiten Kaczyński-Aufguss, waren die Jahre 2005 bis 2007 doch Warnung genug. Und ähnlich wie in Italien einst die Kommunisten nicht aus der Klemme herauskamen, mit gut einem Drittel an Wählerstimmen doch immer wieder Opposition bleiben zu müssen, weil niemand ihnen auf die Regierungsebene half, schienen auch in Polen die Verhältnisse nach 2007 fest gefügt zu sein. Der feste Griff, mit dem Kaczyński seine Partei auf Linie hielt, garantierte zwar das eine Drittel Wählerstimmen, doch war weit und breit niemand in Sicht, der ihm die Steigbügel für das Regierungsgeschäft halten wollte.
Einen historischen Kompromiss suchte Kaczyński nie. Dafür spürte er 2015 plötzlich dem Wind der Veränderungen nach, der durchs Land wehe. Als ob er auf den günstigen Moment gewartet hätte, kamen ihm auch von außen frohe Botschaften entgegen. Die Deutschland-Kritik, die vielerorts die Runde machte wegen des harten Vorgehens in der griechischen Schuldenkrise, kam ihm zupass. Jetzt war es leichter, auch in Polen das Lied anzustimmen von der deutschen Dominanz. Kräftiger intoniert wurde die Melodie im Herbst, als Berlin im Zusammenhang mit den Entscheidungen in der Flüchtlingsfrage wieder des Alleingangs bezichtigt wurde.
Nicht weniger wichtig war das Referendum in Irland, bei dem eine klare Mehrheit sich für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe aussprach. Schnell wurde in den konservativen Kreisen Polens und vor allem in Führungskreisen der katholischen Kirche der negative Einfluss Brüssels als entscheidende Ursache ausgemacht. Gegen den sei auch Polen nicht mehr ausreichend gefeit. Das zielte gegen die geltende Verfassung von 1997, die - so die Kaczyński-Leute nun völlig ungeniert - aus der Zeit vor dem EU-Beitritt stamme. Sie könne also gar nicht imstande sein, Land und Leute so zu verfassen, dass sie im EU-Konzert wie gleichberechtigte Partner behandelt würden.
Geschickt wurde das untersetzt mit ungelösten sozialen Fragen, etwa mit der Lohnentwicklung im Vergleich zu Ländern wie Deutschland, Österreich oder Großbritannien. Die drei Länder zählen zu den bevorzugten Zielen junger Polen auf der Suche nach bezahlter Arbeit. Der unterschwellige Verweis auf teils gravierende soziale Unterschiede zu Ländern wie Deutschland wurde benutzt, um praktisch die gesamte Zeit seit 1989 als Verrat an Landesinteressen hinzustellen, zu dessen ersten Opfern insbesondere die Lohnarbeiter, Rentner und überhaupt die jungen Menschen zählten. Bei allen drei Wählergruppen schnitt PiS am besten ab.
Dennoch blieb der Stimmenanteil am Wahlabend deutlich unter 40 Prozent. Einem Zufall war es zuzuschreiben, dass daraus im Parlament eine absolute Mehrheit an Sitzen wurde. Seitdem schlüpft PiS in die Rolle desjenigen, der den nationalen Willen zu vollstrecken habe. Der bloße Regierungsauftrag ist schnell zur nationalen Mission entwachsen, in der alle möglichen Versatzstücke nationalkonservativer Geschichtspolitik nun ihr Unwesen treiben.
Wenn ein führendes Regierungsmitglied ganz ungeniert faselt, die Regierung müsse das Land gesunden, weil es von Krankheiten befallen sei, dann wird auf Józef Piłsudski zurückgegriffen. Der hatte nach dem blutigen Putsch von 1926 dem Land zur Abhärtung eine schmerzliche Gesundungskur verordnet. Doch fällt das in einem Land, in dem der legendäre Marschall ohnehin fast überall auf dem Sockel steht, auf einen ganz anderen Boden.
Im Augenblick, so weiß Kaczyński, lässt sich insbesondere ein allzu großer Teil der jüngeren Wählerschar gerne auf derlei Geschichtsklitterung ein. Demoskopen stellen dabei überraschend fest, dass jene Generation, die erst in der Zeit nach Polens EU-Beitritt so etwas wie Geschichtsbewusstsein ausgebildet hat, besonders anfällig ist für jene nationalen Legendenbildungen, die politisch nun immer häufiger und stramm nach rechts ziehen.
Die angebliche Mehrheit unter den Polen, die Kaczyński und PiS für die aus der Zeit gefallene Vaterlandsmission voraussetzen, ist fiktiv. Das ist eine zusätzliche Chance für die innenpolitischen Gegner. Aber auch die muss erst einmal unter den gegebenen Verhältnissen genutzt werden. Andererseits treibt dieser unsichere Zustand die Kaczyński-Truppe zu ungewöhnlicher Eile.
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