Bürger bereiten Luther einen großen Bahnhof
Eine Genossenschaft in Eisleben sorgt dafür, dass Bahnreisende zum Reformationsjubiläum 2017 würdiger begrüßt werden als heute
Wenn der erste Eindruck entscheidend ist, hat Eisleben schlechte Karten - zumindest bei Besuchern, die mit dem Zug anreisen. Die Tür zur Bahnhofshalle ist zugesperrt. In einer blinden Scheibe klebt ein Schild: »Kiosk geschlossen«. Fenster sind zersprungen, Wände besprüht, von der Fassade blättert die Farbe. Der Bahnhof in Eisleben sei 1865 gebaut worden, sagt Horst Tetzel: »Er ist älter als der in Leipzig!« Mag sein. Bei der B-Note jedoch zieht die Stadt in Sachsen-Anhalt eindeutig den Kürzeren.
Noch, kann man hinzufügen. Seit Dezember wird am Bahnhof gebaut, und jetzt im Januar »geht es flott weiter«, sagt Tetzel. Der 74-jährige Rentner, der für die LINKE im Stadtrat sitzt, ist Bauherr - einer von rund 170. So viele Mitglieder hat eine Genossenschaft, die das heruntergekommene Stationsgebäude sanieren und künftig betreiben will. Ende 2016 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein; 2017 will man zahlreichen Gästen einen großen Bahnhof bereiten. Dann richtet Eisleben den Sachsen-Anhalt-Tag aus - und hofft vor allem auf einen Ansturm vieler Reformationstouristen. 500 Jahre ist es dann her, dass Martin Luther die berühmten 95 Thesen an eine Kirchentür geschlagen haben soll. Das geschah zwar in Wittenberg, wäre aber ohne eine gewisse Vorarbeit in Eisleben nicht möglich gewesen: In der Stadt im Mansfeld wurde der spätere Reformator 1483 geboren. 1546 starb er hier auch.
Um das Jubiläum von weltweiter Bedeutung gebührend zu feiern, wird in den Lutherstädten in Sachsen-Anhalt viel gebaut. In Eisleben war zuletzt im Februar 2013 ein moderner Ergänzungsbau für das Sterbehaus Luthers eingeweiht worden. Auch um die Infrastruktur sorgt man sich; Wittenberg erhält einen komplett neuen Bahnhof, den die Deutsche Bahn als bundesweit zweites »grünes« Terminal errichtet. »Wir wollen nicht neidisch sein«, sagt Horst Tetzel - und erzählt dennoch leicht erbost, wie der bundeseigene Konzern Ende 2011 den Mietern im Bahnhof Eisleben kündigte und das Gebäude zum Verkauf ausschrieb. Peinlich, sagt Tetzel: »Eine Stadt mit 25 000 Einwohnern, ein Reformationsjubiläum vor der Tür - und kein Bahnhof mehr!«
Diese Philippika dürfte der ehrenamtliche Politiker auch zu Gehör gebracht haben, als im Sommer 2012 CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff Eisleben besuchte. Das Land sicherte damals Hilfe zu. Offen blieb zunächst, für wen: Pläne der Stadt, den Bahnhof selbst zu kaufen, scheiterten am Veto der Kommunalaufsicht wegen schlechter Kassenlage. Auch der Kauf durch ein städtisches Tochterunternehmen erwies sich als unmöglich. Eine Wende brachte erst die Idee, eine Genossenschaft zu gründen. Sie entstand in einer Arbeitsgruppe des Stadtrats, der Mitglieder aller Fraktionen angehörten. Vorbild waren ähnliche Projekte, etwa in Haldensleben in Sachsen-Anhalt. Im September 2013 wurde die Genossenschaft gegründet, zunächst mit 39 Mitgliedern.
Tetzel ist Mitglied im Aufsichtsrat. Allerdings ist die Macht solcher Gremien in Genossenschaften begrenzt: »Die wichtigen Entscheidungen fällen die Mitglieder«, sagt Tetzel - ein wesentliches Argument, weil die Erneuerung des Bahnhofs auf diese Weise zum Anliegen der Bürgerschaft zu werden versprach. Anfangs sei das Interesse verhalten gewesen, räumt der Politiker ein; seit aber ein Bauschild steht, »ist die Skepsis weg«. Zu einem Bahnhofsfest anlässlich des 150-jährigen Jubiläums im November kamen Hunderte Gäste; etliche von ihnen traten der Genossenschaft bei.
Um Mitglied zu werden, muss mindestens ein Anteil von 200 Euro erworben werden. Auf diese Weise will die Genossenschaft den Eigenanteil für das Bauvorhaben stemmen, das insgesamt 1,4 Millionen Euro kosten soll. Die Nahverkehrsgesellschaft des Landes hat im Oktober eine Million Euro zugesagt. Die Stadt will zusätzlich für rund 400 000 Euro die Parkplätze und Anlagen vor dem Gebäude erneuern.
Auch das Nahverkehrsunternehmen Abellio, das seit Dezember neuer Betreiber der durch Eisleben führenden Strecke zwischen Halle und Kassel ist, engagiere sich stark für den Umbau, lobt Tetzel. Die Fahrkarten verkauft Abellio im ersten renovierten Raum im Bahnhof.
Zwar ähnelt der Schalterraum eher einer Kammer, während die geflieste Halle nebenan noch leer steht. Doch auch um deren Belebung muss man sich bei der Genossenschaft nicht sorgen. Eine Imbisskette steht als Mieter fest; ein Reisebüro soll einziehen; die Deutsche Bahn hat sich ebenfalls eingemietet. Es sind offenbar längst nicht nur einige Enthusiasten und Eisenbahnfreunde, die Interesse an einem belebten Bahnhof haben: »Alle Flächen sind vermietet«, sagt Tetzel. Zudem könnten, wenn die Halle dank eines neuen Glasdaches wieder hell geworden ist, Kulturveranstaltungen im Bahnhof stattfinden - und eine Pension mit zehn Zimmern ist ebenfalls geplant. Wo man heute keinen Moment verweilen will, möchte man bald womöglich gar nicht wieder weg.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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