Wenn das Kleinhirn das Denken kontrolliert
Debatte nach den Kölner Übergriffen
Bislang gibt es über die Hintergründe der sexuellen Übergriffe auf Frauen in Köln in der Silvesternacht nur Vermutungen. Vermutlich, so der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, hätten sich die Täter von Köln vorab in sozialen Netzwerken verabredet; ähnlich äußerte sich Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD). Beide konnten keine Belege für diese These vorlegen.
Vieles spricht eher dafür, dass sich die Verbrechen aus der Männerbünden eigenen Dynamik heraus entwickelt haben, wie sie Wolfgang Schmidbauer in seinem Artikel beschreibt. In diese Richtung äußerten sich vor zwei Tagen gegenüber der »FAZ« mehrere Flüchtlinge, die an den Vorgängen in Köln entweder indirekt beteiligt waren oder als Augenzeugen das Geschehen verfolgt hatten. Die Stimmung vor dem Kölner Dom sei schon vor den Übergriffen auf Frauen extrem aufgeheizt und aggressiv gewesen, es habe Prügeleien unter den meist alkoholisierten Männern gegeben. Ein Flüchtling, der angibt, Frauen nicht angegriffen, die Übergriffe aber mit seinem Handy gefilmt zu haben, beteuert, dass er sich am Morgen danach für sein Verhalten geschämt habe.
Nach den Ereignissen in Köln setzte in der deutschen Öffentlichkeit eine Debatte ein, die mit dem Begriff Hysterie nur unzureichend beschrieben ist. Denn anders als diese, die nur den Taumel des Glücks oder des Unglücks kennt, geht es der deutschen Öffentlichkeit offensichtlich darum, etwas wiederzuerlangen, was sie scheinbar verloren hat: die Kontrolle über ihren Alltag. Vorläufiger Höhepunkt ist die Forderung des CSU-Generalsekretärs Andreas Scheuer, straffällige Flüchtlinge künftig auch ohne Prozess abzuschieben.
Das Phänomen ist nicht neu. Es nennt sich »moralische Panik«. Zu solch einer mit Kontrollfetischismus unterfütterten Massenerregung kam es Mitte der 1960er Jahre in Großbritannien. Auslöser war eine Schlägerei unter Jugendgruppen in einer Provinzstadt, auf die die Polizei mit einer Masseninhaftierung reagierte. Lokalpolitiker instrumentalisierten die Vorfälle für Law-and-Order-Forderungen, überregionale Medien griffen das Thema auf und stilisierten es zu einem Massenproblem; Befürchtungen über mögliche Wiederholungen machten die Runde und in der Öffentlichkeit wurden Symbole identifiziert, anhand derer potenzielle Täter angeblich zu erkennen seien: Kleidung, Haarschnitte.
Diese Eskalationsspirale erinnert an das, was derzeit auch hierzulande zu beobachten ist. Und es kommt ein wichtiger Faktor hinzu, der vor 50 Jahren auch für die Entwicklung in Großbritannien entscheidend war: Die Bevölkerung hatte den Eindruck (oder bekam diesen Eindruck durch Medien und Politik vermittelt), dass der Rechtsstaat nicht mehr in der Lage sei, sie vor Verbrechen zu schützen.
In Situationen wie diesen übernimmt das für menschliche Instinkte zuständige Kleinhirn die Kontrolle: Man rückt in der eigenen Gruppe zusammen und sucht verzweifelt nach Indizien dafür, die Schuld an dem vermeintlichen Kontrollverlust dem Fremden, dem nicht zur eigenen Gruppe Dazugehörigen zuzuweisen. In diesem Sinne sind auch die seit einigen Tagen erhobenen Forderungen, bei Straftaten prinzipiell die Nationalität bzw. ethnische Herkunft von Verdächtigen zu nennen, nichts anderes als das Gießen von Öl ins Feuer der »moralischen Panik«.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.