»Die Menschen lernten, indem sie kämpften«
Ein Kämpfer der zivilen Verteidigungseinheiten (YPS) berichtet vom Widerstand der Kurden gegen die Angriffe der Türkei und den Kampf um ihre Autonomie
Als die türkischen Soldaten zum ersten Mal angriffen, wie war da die Verteidigung Ihres Bezirkes organisiert? Wie haben Sie reagiert, welche Maßnahmen wurden getroffen?
Die Idee der Autonomie, die wir verteidigen, besteht darin, dass Menschen sich selbst regieren wollen. Das ist eine natürliche Idee: sich selbst zu regieren und sich selbst zu verteidigen. Wenn man sich Kurdistan und seine Geschichte betrachtet, sieht man, dass hier eine Menge Kriege stattgefunden haben und das kurdische Volk immer unter diesen Kriegen gelitten hat. Die Zeit ist gekommen zu sagen: Schluss damit. Und dieses »Schluss damit« begann mit der PKK.
Wenn wir von diesem Gebiet hier sprechen, war es so, dass die Jugendlichen hier begonnen haben, sich mit Brandsätzen und Steinen zu verteidigen. Das war zunächst alles, was sie einsetzten, um sich gegen den Staat zu verteidigen. Aber nach dieser Periode zwang uns der Staat dazu, uns zu bewaffnen. Sie kamen und wollten uns auslöschen. Also mussten wir die Verteidigung ausbauen.
Semsettin Ertan gehört den zivilen Selbstverteidigungskräften an. Er nimmt derzeit wie viele andere Jugendliche seiner Generation am bewaffneten Abwehrkampf der Kurden in der Türkei teil, die sich den regulären türkischen Streitkräften entgegenstellen. Mit ihm sprach in Nusaybin im südosttürkischen Distrikt Mardin unser Autor Peter Schaber (Lower Class Magazine).
Davor kamen die Sicherheitskräfte zwar auch, aber dann haben sie das Level der Angriffe hochgefahren. Sie töteten Kinder, sie ermordeten Zivilisten, also haben wir angefangen, diese Barrikaden zu bauen und Gräben auszuheben, um sie fernzuhalten von der Bevölkerung. Als Antwort begann der Staat, in der Nachbarschaft aufzumarschieren und Ausgangssperren zu verhängen. Damit wurde das Niveau der Auseinandersetzungen erneut angehoben.
Wie viele Menschen, Zivilisten und Kämpfer, wurden in Ihrer Nachbarschaft getötet?
Beinahe 30 bis jetzt, Zivilisten und Kämpfer. Wann immer eine Menschenmenge auf der Straße zusammenkam, haben sie sie bombardiert. Wenn Einzelne irgendwo während der Ausgangssperre auf der Straße herumliefen, haben Scharfschützen auf sie geschossen. Wenn jemand vom Balkon aus die kämpfenden Jugendlichen angefeuert hat, haben sie auch geschossen.
Die vollständige Ausgangssperre ist hier im Moment aufgehoben. Wie ist die Situation zur Zeit?
Im Moment ist die Ausgangssperre zwar aufgehoben, aber die Kämpfe gehen weiter. Sie greifen die Nachbarschaft jede Nacht an. Erst letzte Woche haben wir zwei Freunde an den Barrikaden verloren. Sie wollen, dass alle Zivilisten von hier fliehen. Also setzen sie die Angriffe fort. Es ist auch psychologische Kriegsführung.
Die Menschen fühlen sich hinter den Barrikaden sicherer. Aber an den Außenlinien der Nachbarschaft halten sie es nicht mehr aus, und die Jugendlichen helfen ihnen dann, neue Orte zu finden, an denen sie bleiben können. Viele Menschen kamen in den 1990er Jahren in diese Region, als sie vom Staat aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Damals wollte der Staat die Menschen vor die Alternative stellen: Entweder ihr kämpft gegen die PKK oder ihr verlasst eure Dörfer. Sie sind dann gegangen. Aber jetzt, da vielen dies noch in Erinnerung ist, änderte sich ihre Haltung in: Wir gehen nirgendwo mehr hin.
In den vergangenen Wochen sind ja die zivilen Verteidigungseinheiten (YPS) entstanden. Wie ist die Beteiligung der Bevölkerung bei der Verteidigung des Gebiets? Gibt es einen wachsenden Willen zum Widerstand, oder sind die Menschen dafür zu verängstigt?
Es gibt zwei Antworten auf diese Frage: Natürlich haben viele den Krieg satt. Es gibt viele Kranke, die Kinder können nicht zur Schule gehen. Das gibt ihnen nicht viel Hoffnung. Sie wollen ein Ende dieser Situation, eine Lösung. So schnell wie möglich. Aber auf der anderen Seite sagen sie: Wir lassen unsere Jugend nicht alleine im Kampf, wir unterstützen sie.
Also kommt der Impuls zum Widerstand von der Jugend, und der Rest der Bevölkerung unterstützt das dann …
Genau.
Sie bauen gerade neue Barrikaden. Erwarten Sie, dass der Staat bald wieder stärker angreifen wird und wieder Ausgangssperren verhängt werden?
Es gibt eine Wahrscheinlichkeit, dass wieder Ausgangssperren ausgesprochen werden. Es kann sein, dass es sogar noch härter wird. Wir wissen es nicht. Aber wir bereiten uns auf alle möglichen Situationen vor.
Die Propaganda des Staates besagt, es seien vor allem professionelle Kämpfer der PKK, die von außen kommen, die hier Widerstand leisten. Gibt es hier PKK-Kämpfer?
Wir kennen diese Propaganda. Aber wie ich vorhin erklärt habe, war es ja so, dass der Staat die Jugend Schritt für Schritt dazu gezwungen hat, sich zu bewaffnen. Es ist so: Die Jugendlichen organisieren sich selbst. Wir waren am Anfang nicht so gut ausgebildete Kämpfer wie jetzt. Jede Ausgangssperre, jeder Angriff war für die Jugendlichen eine Art Erziehung.
Zuerst lernten wir Barrikaden wie diese hier zu bauen. Dann kamen Scharfschützen und wir lernten, wie wir mit ihnen umgehen müssen. Wir lernten auch, wie man sich bei Bombardements verhalten muss. Wir haben uns all das beigebracht, während der Feind uns angegriffen hat. Die Menschen lernten, indem sie kämpften. Die YPS wurden aus diesem Prozess heraus gebildet, als Selbstverteidigungsformation des Volkes. Das ist die organisierte Antwort auf die Situation, in der wir uns befinden.
Denken Sie, dass es Frieden geben kann, solange es diese Regierung gibt? Und wenn nicht, hoffen Sie darauf, dass die PKK im Frühling in die Kämpfe eingreifen wird?
Wir haben nicht viel Hoffnung, dass es mit dieser Regierung Frieden geben kann. Denn jedes Mal, wenn die PKK sich zum Frieden bereit erklärt hat, hat Ankara das zunichte gemacht. Immer und immer wieder. Wir denken, dass die PKK auf diese Angriffe antworten wird. Allerdings nicht, indem sie hierher kommt, das ist nicht der Weg. Sie wird es von außerhalb tun, indem sie eine neue Front gegen den Staat und die Regierung aufmacht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.