Migrationspolitik auf Autopilot
Abschiebungskritiker Miltiadis Oulios über mehr Freizügigkeit für Geflüchtete, die auch das Pendeln erlaubt
2013 ist Ihr Buch »Blackbox Abschiebung« erschienen, jetzt haben Sie es aktualisiert neu herausgebracht. Was hat sich in der Politik seither verändert?
Grundlegend hat sich nichts verändert. Migrationspolitik läuft immer noch auf Autopilot. Niemand schaltet ihn ab. Das Programm läuft einfach weiter. Und das, obwohl die deutsche und europäische Politik der Migrationsverhinderung nicht in der Lage ist, von ihr unerwünschte massive Migrationsbewegungen zu verhindern. Eher sind einige meiner Prophezeiungen eingetroffen. So haben sich Migranten auf eine nie gekannte Weise das Recht genommen hierherzukommen.
Und Kanzlerin Angela Merkel hat sie hineingelassen.
Angela Merkel hat sich lediglich einer Entwicklung gebeugt. Dafür wird ihr nun Rechtsbruch vorgeworfen - ja, aber warum macht sie das? Weil die Gesetze so nicht mehr anwendbar sind. Doch statt Gesetze in einem neuen Geist zu schreiben, werden die alten im alten Geist fortgeschrieben, wie das Asylverschärfungspaket zeigt. In der Praxis werden sie dann nicht angewendet. Das ist gerade das Fatale: Auf der informellen Ebene wird eine Öffnung betrieben, auf der institutionellen aber nicht.
Die Abschiebungen haben sich allerdings von 2014 auf 2015 verdoppelt. Das ist eines der Ergebnisse des Asylpakets vom Oktober.
Richtig. Weil aber das System schon jetzt überlastet ist, sind Forderungen von CDU und SPD nach noch mehr Abschiebung vor allem Symbolpolitik für einen bestimmten Teil der Wählerschaft. Es gibt aber auch einen anderen Teil der Wählerschaft, der für Alternativen empfänglicher ist. Das ist genau wie mit der europäischen Freizügigkeit. Ich behaupte, dass der Großteil der Menschen damit durchaus einverstanden ist und nachvollziehen kann, dass nicht die Gesellschaft zusammenbricht, nur weil vereinzelt Probleme durch die Freizügigkeit entstehen.
Statt mehr Freizügigkeit für Flüchtlinge zuzulassen, haben sich die EU-Länder auf einen Verteilungsschlüssel für Migranten geeinigt.
Ja. Wobei im Beschluss der EU steht, dass bei der Verteilung die Angaben der Flüchtlinge berücksichtigt werden sollen - Sprachkenntnisse, Profession oder Verwandte, die sich bereits in einem EU-Land niedergelassen haben. Aber im Moment kommt das gar nicht zum Zuge. Kaum jemand ist verteilt worden. Ein paar hundert Menschen vielleicht. Auch das Dublin-System funktioniert zur Zeit kaum. Zumindest für Syrer hatte Deutschland Abschiebungen in das EU-Land, das sie als erstes betreten haben, zeitweise ausgesetzt. Obwohl ich es gar nicht schlecht fände, zumindest nach Ungarn einige Leute zurückzuschicken. Orban fährt seine nationalistisch-rassistische Politik der Flüchtlingsabwehr, und wir machen es ihm auch noch einfach.
Abschieben nach Ungarn? Wie passt das zu mehr Freizügigkeit?
Das war jetzt ein bisschen provokant formuliert. Mir geht es nicht darum, Menschen unter Zwang nach Ungarn zu schiffen. Ziel müssen ähnliche Bedingungen überall sein, so dass die Leute auch gerne beispielsweise in Ungarn bleiben.
Auf lokaler Ebene wird die Bewegungsfreiheit gerade wieder eingeschränkt, indem die in weiten Teilen Deutschlands abgeschaffte Residenzpflicht wieder angewendet werden soll.
Es ist erschreckend, dass einige Erfolge, die die Geflüchtetenbewegung erreicht hat, jetzt wieder zunichte gemacht werden. Aber die Refugee-Bewegungen seit 2012 waren dennoch nicht erfolglos. Ein Ergebnis ist, dass sich die Geflüchteten jetzt ihr Recht genommen haben hierherzukommen. Und wir sind nun gezwungen, darüber nachzudenken, wie wir das Recht auf Freizügigkeit erweitern und neue, legale Migrationsmöglichkeiten schaffen, die auch das Pendeln erlauben - in der Hoffnung, dass das besser funktioniert als die scheiternde Abschiebungspolitik.
Wie kommen wir dahin?
Leute, die seit langem in Deutschland leben, dürfen nicht mehr abgeschoben werden. Stattdessen könnte man als Zwischenschritt Abschiebungen auf die Leute reduzieren, die in Deutschland nicht zu Hause, nämlich erst seit kurzem hier sind, und noch dazu beträchtliche Straftaten begangen haben. Das hätte für mich auch eine Disziplinierungsfunktion. Man sagt den Menschen: »Verhaltet euch korrekt, damit alles glatt geht.« Wer das nicht macht, hat es sich verscherzt. Aber natürlich kann man auch diese Menschen beispielsweise nicht nach Syrien abschieben.
Der Vorschlag wundert mich. Sie plädieren für eine taktische Anwendung von Abschiebungen?
Ich werde immer wieder nach der Umsetzung gefragt. Dafür braucht man auch Akzeptanz in der Bevölkerung. Und ich denke, wenn man eine größere Öffnung zulässt, muss man gleichzeitig den Sicherheitsmechanismus verbessern. Deshalb sehe ich meinen Vorschlag als sinnvollen Schritt innerhalb einer Strategie, die grundsätzlich auf den Abbau von Abschiebungen ausgelegt ist. Eine Weltrepublik, ein Weltinnenraum ohne Abschiebungen, wäre von mir aus das Endziel.
Miltiadis Oulios: Blackbox Abschiebung - Geschichte, Theorie und Praxis der deutschen Migrationspolitik, Suhrkamp, 2015.
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