Der Umbruch traf sie mit voller Wucht
Der Abschluss von Andreas Voigts Leipzig-Dokumentarfilmreihe wird am Montag in Berlin gezeigt
Mit dem Film »Alles andere zeigt die Zeit« schließt Andreas Voigt seine Leipzig-Dokumentarfilmreihe ab. Der Film wurde am vergangenen Leipziger Dokumentarfilmfestival uraufgeführt und in einer überfüllten Vorführung in einer der riesigen Vorhallen des Leipziger Hauptbahnhofs gezeigt - für ein Filmfestival ein eher ungewöhnlicher, jedoch für den Charakter dieses Films sehr überzeugender Kino-Ort. Am heutigen Montag feiert der Film im Kino Arsenal seine Berliner Premiere.
Seit dem Herbst 1989 hat Voigt junge Leipziger per Film begleitet. Der Umbruch 1989 hat sie mit voller Wucht getroffen. Voigt wollte wissen und sehen, was aus ihnen geworden ist. Sie gingen verschlungene Wege mit allen Tiefen und Höhen des heutigen Lebens in Deutschland, hatten viele Träume und auch manche Ängste. Inzwischen sind sie im deutschen Alltag angekommen, und nicht immer bleiben sie frei von berechtigtem Fatalismus.
Die Punkerin Isabel mutierte zur Insolvenzhelferin, bleibt freilich witzig und souverän. Die Journalistin Renate wollte nach der Wende nur das schreiben, was sie mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte - ihre Stasi-Vergangenheit erdrückte sie, ihre Tochter Jenny will jetzt die Mutter erkennen und verstehen. Der Gelegenheitsarbeiter Sven sucht immer noch nach einem Lebenshalt, der ihm gerecht wird und dem er gewachsen ist. Sie kommen aus den vorigen Filmen und bilden nun das Zentrum des neuen Films. Und alle Filme verknüpfen subjektive Erfahrungen mit welthistorischen Ereignissen im sozialen, historischen und geografischen Fokus der Großstadt Leipzig.
Voigt lässt sich Zeit, sieht lange und genau hin (furios unterstützt von seinem Kameramann Sebastian Richter). Er nimmt seine Partner ernst und bleibt mit ihnen durchweg auf Augenhöhe. Zu sehen und zu hören ist ein lange gewachsenes gegenseitiges Vertrauen, ein großer Wert. Die Filme, auch den neuesten Film, durchzieht entwaffnende Offenheit, eine angenehm sympathische Grundtemperatur, die heutzutage nicht eben häufig im Kino anzutreffen ist. Mit diesem Gefühl und mit seiner Arbeitshaltung knüpft Voigt an überlieferte, menschlich wie sozial tragfähige DEFA-Dokumentarfilm-Traditionen an, wie sie etwa mit den Filmen von Volker Koepp, Gerd Kroske und Helke Misselwitz repräsentiert werden.
Wer sich zu dieser Haltung und dieser Gestaltung aufschließt, dem wächst humanitäres Kapital der besseren Art zu. Aus Interesse wird Anteilnahme. Voigts Protagonisten kommen einem nahe und bleiben es lange. Leitmotivisch bleibt Leipzig der Ursprungsort dieser Lebenswege. Immer mal wieder zeigt der Film eine banale Straße in einem Indus-trieviertel, durchschnitten von einem Gleis, über das ein Güterzug scheppert. Die steinerne Straßenschlucht und die sie durchquerende Eisenbahn - markante filmische Metaphern für Verharrung, Vergänglichkeit, für Bewegung und Teilung. Die Arbeitswelt - und sei sie noch so spröde, verworren und unsicher - bleibt für Voigt und für seine Protagonisten ein aufregendes zentrales Bezugsfeld, jenseits von Mainstream oder Ratemal-Hübschereien. Auch dies ist ein sinnlicher Wert des Films.
»Alles andere zeigt die Zeit«. Andreas Voigt, D 2015, Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Mitte, 25.1., 19.00 Uhr, in Anwesenheit des Regisseurs
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