Ein Fliehen gibt es nicht
Uraufführung in der »Tischlerei« der Deutschen Oper: »Sensor« von Albert Ostermaier und Konrad Boehmer
Die Experimentierstätte der Deutschen Oper ist dem Bilde nach eine typische Theater-»Tischlerei«. Großer quadratischer Raum, wegen der oft genug hochragenden Bühnenbauten mit einer Höhe, die staunen macht. Diese Fallhöhe passt genau zu »Sensor«. Denn das Stück spielt in den Trümmern eines zerbombten Hauses, das die Mitte des Raumes ausfüllt, mit einem Umfeld, das technische Welten markiert. Seine Kanten sind mit Monitoren besetzt, im gesamten Raum verteilt Lautsprecheranlagen.
Hoch und höher. Von oben kommt der gegenwärtige Bombensegen und schafft eine Verzweiflung, welche die Menschen böse und kalt, apathisch und krank macht. Ihre Albträume treiben sie in die Flucht. Aber in »Sensor« gibt es kein Fliehen weg aus der scharf schießenden Unbill der Welt. Die drei Protagonisten, zwei Frauen, ein Mann, sind darin Gefangene ihrer Erinnerungen im Angesicht durchlöcherter Decken und zersprengter Mauern, zerrissener Möbel und kaputter Beziehungen. Dies schändliche materielle Resultat ist für sie Anlass, sich zu artikulieren und trotz allem den Versuch zu wagen, sich ihrer selbst inne zu werden, und neuerlich zu fragen: Wo bin ich? »... am rücken die schweissränder/ der vorstädte deine schritte/ schneller als dein atem warum/ läufst du bleibst stehen alles/ kommt auf dich zu du musst/ nur stehen bleiben bleib stehen/ dreh dich nicht halte die/ luft an ...«.
Solche Verbalien wirken wie gestanzt. Sie sind, indem sie repetiert werden, Zeichen der Verzweiflung. Die jüngere der Frauen, begeilend den Apparat, telefoniert, als würde sie von Gott und der Welt verlassen sein. Die andere raucht unentwegt, schminkt sich, zieht sich aus, wieder an, redet in hochpoetischen Sentenzen. Der Mann mit Trenchcoat und Brille indes irrt von Fenster zu Fenster, Tür zu Tür, weiß sich keinen Rat, rät Absurdes, hebt Sprache ins Surreale, in die Paradoxie, in die Sphäre des blutigen Witzes. Endlich: Niemand weiß Rat.
Das Stück ist schon älter. Der unvergessene niederländisch-deutsche Komponist Konrad Boehmer, er starb 2014, schrieb es vor acht Jahren. Schon zuvor hatte er mit dem Textautor Albert Ostermaier gemeinsame Projekte realisiert. Jetzt erlebte »Sensor« endlich seine Uraufführung.
»Sensor« gibt Abbilder der modernen Zivilisation, wie sie täglich die Wohnzimmer der noch Verschonten erreicht. Nun konnten solche Verschonte in der »Tischlerei« der Sache hautnah begegnen. Trümmer aus Gips zum Anfassen, mit den Darstellern Aug in Aug. Die Leute konnten ums Trümmerfeld laufen und durch die Fenster und Öffnungen schauen. Nach Bedarf auch die Nähe zu den entfernt in einer Ecke postierten Musikern suchen. Auf Videowänden wechselten trügerische Gegenbilder einander ab: Mann, der sich im Bett räkelt und qualmt, Frau auf Couch rauchend. Dame, posierend in königlicher Aufmachung, Frau nackt in der Badewanne. Bilder zumeist in Braunstich.
Nichts ist schön in diesem Stück, das nicht unbegründet als »Elektrisches Musiktheater« firmiert. Jegliches Singen und rhythmisch-chorisches Artikulieren ist abwesend. Die Klänge - ein Klarinettist, zwei Percussionisten, eine Pianistin, ein Mann am Computer und ein Dirigent bringen sie hervor - gehören in die Rubrik der Präzisionsmusik. Alles läuft nach der digitalen Uhr ab, die der Dirigent verfolgt, Dauer des Ganzen: 80 Minuten. Klänge können je nach Situation den ganzen Raum ausfüllen, wiewohl Elektronik sparsam sich kundtut. Analogon der Zertrümmerung ist das percussive Element der Musik. Sämtliche Parts, auch die von Klarinette und Klavier, sind auf Härte und Schärfe abgestellt, gemildert lediglich in den leiseren Teilen. Das Percussive bildet jedenfalls das Substrat der hoch organisierten Partitur. Jene Vorüberziehenden konnten die Notenbilder und die Aktionen der Spieler unmittelbar in Augenschein nehmen.
Verena Stoiber besorgte die Inszenierung, eine, die Trostlosigkeit derart offenbart, als würde die heutige Welt darin eingetaucht sein. Morgane Ferru, Ruth Macke und Stephan Baumecker gaben die semantisch verwickelten, so monotonen wie überexpressiven Texte, die umzusetzen kein geringes Können verlangt. Präzise Zeichensetzungen kamen - nicht anders zu erwarten - von Dirigent Manuel Nawri, dessen vier Spieler Kompliziertestes über eine lange Frist einzubringen hatten.
Nächste Vorstellungen: 27. bis 29.1.
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