Nie wieder war ein Winter so kalt

Auszüge aus der Rede Ruth Klügers im Bundestag zum Holocaust-Gedenktag über ihre Zeit als NS-Zwangsarbeiterin

  • Lesedauer: 7 Min.

Der Winter von 1944/45 war der kälteste Winter meines Lebens und blieb sicher unvergesslich für alle, die ihn damals in Europa erlebten. Ich bin jetzt 84 Jahre alt und hatte zwar noch nicht viele Winter hinter mir, ich war gerade erst 13 Jahre alt geworden, aber auch die vielen anderen, die noch folgen sollten, waren für mich nie wieder so kalt wie dieser letzte Kriegswinter. Kälte, der man hilflos ausgesetzt ist, bleibt für mich auf immer verbunden mit Zwangsarbeit im Frauenlager Christianstadt, ein Außenlager des KZ Großrosen in Niederschlesien, wie es damals hieß. Heute liegt der Ort in Polen.

Bei Zwangsarbeitern denkt man an erwachsene Männer, nicht an unterernährte kleine Mädchen. Aber ich war keineswegs bemitleidenswert, im Gegenteil, ich hatte großes Glück gehabt und war stolz darauf. Denn es war mir gelungen, mich im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Sommer 1944 - das war eine Saison, in der die Gaskammern und Kamine im Lager auf Hochbetrieb liefen -, mich in eine Selektion einzuschmuggeln, die arbeitsfähige Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren zum Kriegsdienst auswählte. Da hatte ich mich in eine Warteschlange gestellt, und auf die Frage des amtierenden SS-Manns mein Alter, damals noch zwölf Jahre, als fünfzehn angegeben, eine sehr unwahrscheinliche Lüge, denn ich war nach fast zwei Jahren Theresienstadt unterernährt und unentwickelt.

Die Lüge war mir von einer freundlichen Schreiberin, ein Häftling wie ich, zwei Minuten früher eingeflüstert worden und ich hatte sie tapfer wiederholt. Der SS-Mann betrachtete mich und meinte, ich sei aber sehr klein. Die Schreiberin behauptete kühn, ich hätte starke Beine: «Sehen Sie doch nur, die kann arbeiten»; er zuckte die Achseln und ließ es gelten. Einem Zufall von wenigen Minuten und einer gütigen jungen Frau, die ich nur einmal im Leben gesehen habe, verdankte und verdanke ich mein Weiterleben, denn der Rest des Transports von Theresienstadt, mit dem ich gekommen war, wurde in den nächsten Tagen vergast. Wir Ausgewählten wurden in Waggone verfrachtet und ins Arbeitslager verschickt.

Wir wurden morgens durch eine Sirene oder Pfeife geweckt und standen im Dunkel Appell. Stehen, einfach stehen, ist mir noch heute so widerlich, dass ich manchmal aus einer Schlange ausscheide und weggehe, wenn ich schon fast dran bin, einfach weil ich keinen Augenblick länger in einer Reihe bleiben möchte. Wir bekamen eine schwarze, kaffeeartige Brühe zu trinken, eine Portion Brot zum Mitnehmen und marschierten in Dreierreihen zur Arbeit. Neben uns lief eine Aufseherin, die uns mit ihrer Pfeife im Gleichschritt halten wollte. Alles Pfeifen nützte nichts, den Gleichschritt haben wir trotz des Ärgers der Aufseherinnen nicht gelernt. Es freute mich in meinem kindlichen vorfeministischen Widerstandstrotz, dass man jüdische Hausfrauen nicht veranlassen konnte, im Schritt zu gehen. Wir waren nicht aufs Marschieren gedrillt worden. Männer konnte man leichter dazu trainieren.

Manchmal mussten ich und meine Freundin Susi, eine Sechzehnjährige, in den Steinbruch, den ältesten Arbeitsplatz in Groß-Rosen, um dessentwillen dieses KZ dort überhaupt errichtet worden war. Im Steinbruch war es zum Verrecken kalt. Wir klammerten uns aneinander, aber das nützte nicht viel. Man konnte sich so gar nicht gegen die Kälte schützen, unsere Kleidung war viel zu dünn, an den Füßen hatten wir Zeitungspapier, das half, aber nicht genug. Und wir hatten vereiterte Wunden an den Beinen, denn es heilte alles so schlecht. Wir sehnten uns nach der nächsten Pause, Mittagspause, dann Feierabend. Zweifel, der an Verzweiflung grenzt: Wie lange halte ich das noch aus? Hoffnung: morgen zum Lagerdienst im Lager bleiben zu dürfen, um dort sauber zu machen. Aber das war ein seltenes Privileg.

Genau gesehen ist Zwangsarbeit insofern schlimmer als Sklavenarbeit, weil der leibeigene Sklave einen Geldwert für seinen Besitzer hat, den dieser verliert, wenn er den Sklaven verhungern oder erfrieren lässt. Die Zwangsarbeiter der Nazis waren wertlos, die Ausbeuter konnten sich immer noch neue verschaffen. Sie hatten ja so viel «Menschenmaterial», wie sie es nannten, dass sie es wortwörtlich verbrennen konnten.

Und erst die Frauen! Die konnten ja nicht einmal so gut arbeiten wie die Männer. Manche Männer ... waren ausgebildet in Berufen die für den Kriegseinsatz brauchbar waren. Doch die Frauen? Man konnte sie ruhig bis zum Verhungern ausnützen. Fast niemand im Lager menstruierte, dazu braucht’s ein gesünderes Leben. Sie waren vor allem Hausfrauen gewesen. Das war die Generation, die nur selten Berufe außerhalb des Haushalts ausübte. Sie waren Menschen der Mittelklasse, die Generation meiner Mutter, um die Jahrhundertwende geboren, die erzogen wurden und damit gerechnet hatten, dass die Männer in der Familie sie zeit ihres Lebens ernähren und beschützen würden. Sie hatten fast nichts zu bieten als ihre beschränkte Geschicklichkeit und die verminderte Körperkraft der Hungernden.

Ich sage «fast», denn etwas können Frauen doch ausüben, was man als einen weiblichen Beruf bezeichnet hat, nämlich die Prostitution. In manchen Konzentrationslagern für Männer, darunter Mauthausen, das einzige KZ in meinem Geburtsland Österreich, gab es sogenannte «Sonderbaracken», wo Frauen, hauptsächlich im Frauenlager Ravensbrück rekrutiert, gewissen KZ Insassen zur Verfügung standen. Dort, in der Sprache von Heinrich Himmlers unnachahmlich arroganter Menschenverachtung, «sollen den fleißig arbeitenden Gefangenen Weiber in Bordellen zugeführt werden». Ende Zitat. Der Kulturwissenschaftler Robert Sommer nennt diese Situation ganz korrekt «sexuelle Zwangsarbeit», wobei der Nachdruck auf den Zwang fallen muss.

Nach dem Krieg gab’s sofort, und gibt’s vielleicht heute noch immer, zahlreiche pornografische Bücher und Bändchen, die, oft bilderreich, vorgaben, die Prostitution im KZ darzustellen. Sie waren natürlich erfunden. Auf dieser Ebene, nämlich der einer zweifelhaften Unterhaltungsliteratur, war’s ein Geschäft und fand Leser und Abnehmer. Die Wirklichkeit war Lagerwirklichkeit und nicht so erotisch aufreizend. Die Frauen waren in ständiger Gefahr geschlechtskrank oder schwanger zu werden, durch einen serienmäßigen Geschlechtsverkehr, der je höchstens 20 Minuten dauern durfte, während draußen vor der Baracke schon eine Schlange wartender Männer stand. Das ist nicht eine «Arbeit», die man sich freiwillig aussucht, wie den missbrauchten Frauen nach dem Krieg manchmal zynisch vorgeworfen wurde. Die Prostituierten wurden später auch nicht als Zwangsarbeiter eingestuft, und die Überlebenden hatten keinen Anspruch auf Restitution - die sogenannte Wiedergutmachung - oder erhoben keinen solchen Anspruch. Noch weniger ihre Familien, die sich ihrer schämten. Der Respekt, den man den Überlebenden der Lager entgegenbrachte, wenn nicht immer, so doch oft, galt für sie nicht.

Erst in letzter Zeit ist ihr Schicksal genauer erforscht worden. Eine solche Diskriminierung und Vertuschung geht natürlich auf uralte Vorurteile zurück, laut denen der Geschlechtsverkehr die Frau entehrt, den Mann aber stärkt. Und doch haben gerade diese gefangenen Frauen weniger für den Nazikrieg geleistet als alle anderen Zwangsarbeiter. Sie haben nur sich selbst geschadet, körperlich und seelisch. Wenn wir heute der Zwangsarbeiterinnen von damals gedenken, so müssen wir sie mit einschließen. (Übrigens waren weder diese «fleißig arbeitenden» Privilegierten« noch »die Weiber« jüdischer Herkunft. Das wäre ja Rassenschande gewesen.)

Meine Herren und Damen, ich habe jetzt eine ganze Weile über moderne Versklavung als Zwangsarbeit in Nazi-Europa gesprochen und Beispiele aus dem Verdrängungsprozess zitiert, wie er im Nachkriegsdeutschland stattfand. Aber eine neue Generation, nein, zwei oder sogar drei Generationen sind seither hier aufgewachsen, und dieses Land, das vor 80 Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Großherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen.

Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind. Das war der Hauptgrund, warum ich mit großer Freude Ihre Einladung angenommen und die Gelegenheit wahrgenommen habe, in diesem Rahmen, in Ihrer Hauptstadt, über die früheren Untaten sprechen zu dürfen, hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und entsteht, mit dem bescheiden anmutendem und dabei heroischem Wahlwort: Wir schaffen das.

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