Aufklären, aufklären, aufklären
Avner Shalev über die Kunstsammlung von Yad Vashem und die Verantwortung der Deutschen
Warum haben Sie gezögert, die Kunstwerke aus Ihrer Sammlung nach Berlin auszuleihen - weil Berlin die Hauptstadt des »Dritten Reiches« war?
Nein, nicht deswegen zögerte ich, sondern weil es sich hier um kostbare, einmalige, unersetzbare Bilder handelt. Sie stammen von 50 Künstlern, berühmte und weniger bekannte. Knapp die Hälfte überlebte die Shoah nicht - was jedoch nicht repräsentativ für die Todesrate jüdischer Künstler unter der Naziherrschaft ist; sie war wesentlich höher.
Die jetzt in Berlin gezeigten Werke sind vielfach das einzige, was von den Opfern und ihrem Schöpfertum überliefert ist. Es sind beredte Zeugnisse aus einer mörderischen Zeit. Sie dokumentieren den Terror und die Kraft menschlichen Geistes, sich Unmenschlichkeit und Barbarei zu widersetzen. Die Künstler wollten angesichts des Todes der Welt etwas hinterlassen: Wenn wir nicht mehr da sind und berichten können, werden unsere Bilder sprechen.
Er war nur kurz in Berlin, kam zur Eröffnung der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum »Kunst aus dem Holocaust«. Sie zeigt 100 Werke aus der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, der er seit 1993 vorsteht. Avner Shalev hat die Gemälde, Grafiken und Zeichnungen, die in verschiedenen NS-Konzentrationslagern, Zwangsarbeiterlagern und Ghettos entstanden sind, nicht gern auf die Reise geschickt. Das gibt er offen zu. Warum er zögerte, erläutert er in einem Exklusiv-Interview für »neues deutschland« wenige Stunden vor der Eröffnung der Schau am vergangenen Montag durch die Bundeskanzlerin. Shalev, Jg. 1939, diente bis 1980 in der israelischen Armee, zuletzt im Rang eines Brigadegenerals. Er nahm am Sechs-Tage-Krieg 1967 und am Yom-Kippur-Krieg 1973 sowie den folgenden Verhandlungen mit Ägypten teil. Nach Beendigung seiner Militärkarriere war er im Ministerium für Bildung und Kultur tätig. Mit ihm sprach Karlen Vesper.
Wie viele Kunstwerke besitzen Sie?
Unsere Sammlung umfasst 10.000 Kunstwerke. Für die Ausstellung in Berlin haben wir einige der kostbarsten und eindrucksvollsten ausgesucht. Da hatten wir natürlich Angst, sie aus unserer Obhut zu geben. Wir wägten Risiko gegen Nutzen ab und haben nach einer Bedenkzeit dann doch zugesagt. Es war für uns eine sehr schwere Entscheidung. Wir denken aber, Deutschland ist ein guter Platz. Die deutsche Gesellschaft hat eine besondere historische Verpflichtung den Juden gegenüber. Und sie ist sich dieser generell bewusst.
Sie bestückten erstmals eine Kunstausstellung im Ausland? Sie haben eine solche bisher nicht einmal New York gegönnt?
Nein. Es ist das erste Mal. Natürlich haben wir schon einige Kunstwerke, drei, vier oder fünf, ins Ausland geschickt, aber wir haben keine Ausstellung in dieser Dimension gewagt.
Sollten die Zeugnisse der Shoah aber nicht weltweit gezeigt werden? Sind sie digitalisiert, wie es inzwischen viele Museen halten?
Nicht alle 10.000 Werke, aber viele sind im Internet anzuschauen. Und es werden sukzessive immer mehr. Wir wissen auch, das viele Museen in der Welt unsere Werke zeigen möchten, aber wir werden sehr vorsichtig abwägen.
Es ist unglaublich, was für eindrucksvolle, erschütternde und - mag das Wort in diesem Kontext auch unpassend erscheinen - schöne Werke in den Lagern und Ghettos entstanden, wo geprügelt, gedemütigt, gemordet wurde.
Der Auschwitz überlebende österreichische Philosoph Viktor Frankl, der sich intensiv mit dem »Bösen« befasste, schrieb in einem seiner Bücher, dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht die letzte Freiheit, nämlich sich unter den gegebenen Umständen so oder so zu verhalten. Und es gab und gibt immer ein »So oder So«. Manche sind zerbrochen, resignierten, gaben sich auf; ihre Kraft war aufgebraucht. Aber es gab viele andere, die versuchten ihre Identität beispielsweise über die Kunst zu bewahren.
Wie schätzen Sie die nun schon über 50-jährigen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel ein?
Ich bin da kein Experte. Ich denke, sie sind gut und könnten besser sein. Und ich glaube, die politische Führung in Deutschland weiß um ihre Verantwortung gegenüber Israel. Andererseits geben die zunehmenden Spannungen in Europa, vor allem um die Flüchtlingsfrage, Anlass zur Sorge. Deutschland verhält sich anständiger gegenüber Israel als andere Staaten. Aber die Frage ist, ob das auch so bleibt. Deshalb ist Aufklärung so wichtig: aufklären, aufklären und nochmals aufklären. Damit die jungen Menschen in Deutschland verstehen, dass es eine historische Last gibt, die man nicht einfach abschütteln kann, mit der man sich immer und immer wieder auseinandersetzen muss. Damit sie sich nicht eines Tages in einer Diktatur wiederfinden, wie es sie in Deutschland schon mal gab.
Ist man in Israel besorgt über die Pegida-Demonstrationen und NPD-Aufmärsche? Weiß man davon?
Natürlich wird das aufmerksam in Israel verfolgt. Jegliche Regung von Antisemitismus und anderen Formen des Rassismus lässt aufhorchen. Aber wir vertrauen und bauen auf die deutsche Gesellschaft und hoffen, die deutschen Politiker wissen, was zu tun ist.
Berlin scheint sehr attraktiv für junge Israelis; viele leben, studieren, arbeiten hier. Ist das ein Problem für die ältere Generation, die Überlebenden der Shoah?
Junge Leute finden Berlin aufregend und spannend. Sie finden hier Bedingungen vor, die sie ansprechen. Sie können sich hier neu erfinden, Neues ausprobieren, sich entfalten. Aber es gibt keinen massenhaften Exodus junger Israelis nach Berlin. Das ist nicht typisch für die israelische Jugend. Und es hängt auch stets vom familiären Hintergrund ab. Eltern, die ihre Eltern, Großeltern und Geschwister in der Shoah verloren haben, mögen nichts einzuwenden haben, wenn der Sohn oder die Tochter nach Berlin als Touristen reisen, aber es schwerlich akzeptieren, wenn sie dort länger oder auf Dauer leben wollen: Warum Deutschland, warum Berlin? Warum keine x-beliebige andere Stadt in Europa?
Befürchten Sie, der Syrienkrieg und der IS könnten zu einer noch größeren Gefahr werden für Israel?
Der Syrienkrieg und der IS stellen bereits eine sehr große Gefahr dar. Die Situation im Mittleren Osten ist schrecklich. Aber wir sind wehrhaft. Wir können uns verteidigen.
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