»Wir erleben Zeiten wie 1929«
Interview mit Yanis Varoufakis über seine Initiative »DiEM25« und die Fragmentierung Europas
Wie ist das Leben eines Aktivisten-Popstars?
Ich bin kein Popstar.
Viele Medien stellten das so dar.
Nachdem ich Finanzminister wurde, begannen die Medien alles zu trivialisieren, was ich sagte. Je mehr ich mich gegen das europäische Establishment stellte, desto mehr konzentrierten sie sich auf mein Motorrad.
Gut, konzentrieren wir uns auf Ihre neue Bewegung »DiEM25«. Sie waren schon im vergangenen Herbst in der Berliner Volksbühne …
Es war großartig.
Nun kommen Sie zurück, um Ihre Initiative vorzustellen. Warum hier? Ist die Volksbühne der zentrale Ort der europäischen Bewegungen?
Es gibt dort viel frische Luft. Seit Jahrzehnten schwingt in dem Theater eine Energie voller progressiver politischer Ideen mit. Die Volksbühne ist Teil der Kultur der deutschen Arbeiterklasse.
Warum aber Berlin und nicht Athen, Rom oder Madrid?
Für mich und meine Genossen ist es wichtig, in Berlin ein Zeichen zu setzen. Seit dem Kollaps von Lehman Brothers und dem Zusammenbruch des Finanzsektors denke ich, dass wir in einer Zeit leben wie im Jahr 1929. Wie damals der Zusammenbruch des Goldstandards hat die Eurokrise einen schrecklichen und Furcht einflößenden Prozess der Desintegration in Europa eingeleitet. Die Menschen werden gegeneinander aufgewiegelt.
Ganz schnell hieß es: die Griechen gegen die Deutschen.
Seit dem Beginn der Krise war es mein Ziel, Aussagen über »die Deutschen« und »die Griechen« entgegenzuwirken. Solche Generalisierungen führen nur zu Rassismus und Fanatismus. Berlin ist ein guter Ort, um eine Gegenbewegung zu starten.
Manche fragen sich jedoch, wie offen und demokratisch »DiEM25« ist. Schließlich trafen Sie sich im Vorfeld bereits mit bekannten Politikern wie Oskar Lafontaine, Miguel Urban oder Jean-Luc Mélenchon. Ist »DiEM25« nicht vielleicht eine Bewegung von oben?
Mit Lafontaine und Jean-Luc Mélenchon habe ich auch meine Differenzen. Aber ich möchte mich lieber auf die Gemeinsamkeiten konzentrieren. Denn der schlimmste Fluch der Linken ist das Sektierertum und die Spaltungen. »DiEM25« wird auch nichts von oben sein. Nichts wird vor dem 9. Februar beschlossen. Wir werden alle gemeinsam überlegen, wie wir die paneuropäische Demokratiebewegung gestalten. Der Prozess beginnt am 10. Februar.
Wie wird die Bewegung aussehen?
Es wird keine Top-Down-Organisation sein. Es wird weder ein Politbüro noch ein Zentralkomitee geben.
Sondern?
Wir werden sehr stark das Internet nutzen und entwickeln derzeit eine App, die es uns ermöglichen soll, lokal, regional, national und europaweit zu netzwerken.
In Ihrem Manifest schreiben Sie, dass Sie eine Verfassung für Europa haben wollen. Was soll der Unterschied zum jetzigen System sein?
Es wird genau das Gegenteil sein. Derzeit fußt die Europäische Union auf Regeln, die keiner kennt, die irgendwo in Protokollen versteckt sind. Ein verfassungsgebender Prozess, in dem alle gewählt und repräsentiert sind, soll damit Schluss machen. Die konstituierende Versammlung wird wie 2011 auf dem Syntagma-Platz in Athen sein, während der großen Versammlungen gegen das etablierte System - nur noch viel größer. Es werden alle aus den verschiedenen Teilen der EU zusammenkommen und gemeinsam entscheiden, wie sie in der Union zusammenleben wollen. Ist das utopisch? Absolut.
Was für ein Währungssystem stellen Sie sich vor? Oskar Lafontaine setzt auf Nationalwährungen …
Geld sollte stets ein Instrument und nie ein Fetisch sein. Doch in Europa gibt es auf der einen Seite viele, die zwanghaft am Euro festhalten. Für sie ist die gemeinsame Währung so etwas wie ein Gott. Dabei gibt es keine heiligen Kühe außer den Menschen selbst. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die unbedingt zur Drachme oder D-Mark zurückwollen und dabei vergessen, dass sie damals auch nicht gerade im Sozialismus lebten.
Geld ist also äußerst politisch.
Natürlich. Und es gehört demokratisiert. Deswegen darf es auch nicht Technokraten wie dem früheren und jetzigen Chefs der Europäischen Zentralbank Jean-Claude Trichet oder Mario Draghi überlassen werden.
Für viele kommt es überraschend, dass Sie jetzt auf Bewegung setzen. Bereits 2011 kam es zu einer großen demokratischen Bewegung mit den Platzbesetzungen in Spanien und Griechenland. Hunderttausende forderten die Demokratisierung Europas. Doch die Institutionen bewegten sich nicht. Dann beschlossen Podemos und SYRIZA, in die Institutionen zu gehen. Ist ihr Schritt zurück auf die Straße ein vorschneller Rückzug aus den Institutionen?
2011 war ein einzigartiger Moment in der europäischen Geschichte, vor allem in Griechenland. Ich war jede Nacht mit meiner Familie auf dem Syntagma-Platz in Athen. Doch die Bewegung wurde entschieden geschlagen! Ich erinnere mich noch genau an einen Tag im Juni während der Zeit, als das Parlament das zweite Kreditprogramm verabschieden sollte. Damals setzte die Polizei so viel Tränengas wie nie zuvor in Europa ein. Es war wie auf einem Schlachtfeld in Irak. So wurde die Menge von den Plätzen vertrieben, sie versammelte sich nie wieder. SYRIZA versuchte dann, ihren Geist einzufangen.
Doch biss sich die Partei letztlich an den Troika-Institutionen EZB, EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds (IWF) sowie der deutschen Regierung die Zähne aus.
Natürlich wurde SYRIZA vom deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble und der Troika erdrückt. Doch sie waren nicht stark genug, um uns zu besiegen. Wir besiegten uns selbst. Die Niederlage kam von innen! Aber das ist das Wesen der sozialen Bewegungen: Auf wunderbare Momente folgen Niederlagen und Verrat. Man muss sich danach immer wieder sammeln, zusammensetzen und weitermachen. Genau das tun wir jetzt.
Podemos in Spanien und der Bloco de Esquerda in Portugal versuchen es weiter auf parlamentarischer Ebene. Sind sie auf dem Irrweg?
Nein. Aber ich hoffe, dass Podemos nicht den gleichen Fehler macht und sich in irgendeine Regierungskoalition zwängen wird. Sie dürfen ihren Bewegungscharakter nicht aufgeben. Aber auch wir anderen müssen jetzt weitermachen. Es funktioniert nicht, Europa in den Händen von Podemos in Spanien zu lassen.
Woher wissen Sie, dass die Zeit reif ist für eine neue Bewegung?
Ich bin nicht einfach mit der Idee aufgewacht, eine Bewegung zu gründen. Seit meinem Rücktritt als Finanzminister hatte ich viele Treffen in Europa, um über die Erfahrungen in Griechenland zu sprechen. Da kamen viele Menschen, die nicht schon Teil der alten Bewegungen der Indignados in Spanien oder vom Syntagma-Platz waren. Das gibt mir Hoffnung.
Was für Menschen sind das?
Es sind ganz normale Menschen aus der Mittelschicht, die noch nie zuvor auf einem Polittreffen waren. Sie kamen auch nicht, um den Star Varoufakis zu sehen oder Solidarität mit der griechischen Sache zu zeigen. Sie kamen, weil sie Angst um ihren eigenen Lebensstandard haben. Um die lokalen Krankenhäuser, die Schulen, um ihre Renten und die Aussichten ihrer Kinder. Sie realisierten, dass Europa kurz davor ist zu scheitern.
Bringt das scheiternde Europa die Menschen derzeit nicht eher dazu, Rechtsradikalen wie denen von Front National oder Pegida hinterher zu rennen?
Wir leben tatsächlich in einer Zeit wie in den 1920ern, in der der Kapitalismus in die Krise geriet. Dies führt zu Nationalismus und Fanatismus. Die Aufgabe der Linken war es schon immer, Narrative zu schaffen, die die Mittelschicht davor schützten, eine Geisel der Faschisten und Nazis zu werden. Wer zu uns kommt, geht nicht zu Pegida.
In Deutschland gibt es, abgesehen von Initiativen wie Blockupy, keine Antiausteritätsbewegungen. Dafür engagieren sich aber viele Menschen in Willkommensinitiativen. Hängen die Kämpfe für die Rechte der Flüchtlinge mit der Demokratiekrise zusammen?
Der Grund, warum die Menschen hierher kommen, liegt natürlich außerhalb von Europa. Er liegt in der Situation in Syrien und Irak. Doch unsere Kapazitäten, Antworten auf die Flüchtlingskrise zu finden, wurden sehr durch die Spaltung Europas eingeengt. Diese Fragmentierung geht auf Gerhard Schröders Wirtschaftspolitik zurück. Er verbesserte die deutsche Wettbewerbsfähigkeit durch erhöhte Ausbeutung, durch die Schaffung einer neuen sozialen Klasse in Deutschland: der Working Poor, mit Minijobs, den Hartz-Reformen.
Diese Maßnahmen liegen in der Vergangenheit. Niemand protestiert mehr dagegen.
Es gibt zur Zeit keine Austeritätspolitik in Deutschland. Aber es gibt eine geradezu boshafte Ungleichverteilung von Einkommen schon seit über 20 Jahren. Diese Ungleichheit begünstigt Rassismus. Gegenüber den Griechen, gegenüber Flüchtlingen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im Sommer Teil des Coups gegen SYRIZA war, forderte in Sachen Flüchtlingen plötzlich Solidarität ein. Kann sie auch bei »DieM25« mitmachen?
»DiEM25« ist offen für jeden. Doch sie wird sich uns nicht anschließen. Ein einziger Blick in unser Manifest wird sie davon abschrecken.
Sie halten also nicht viel von ihr.
Sie ist eine sehr talentierte und erfahrene Politikern. Sie hat zwar keine Vision für Europa, dafür aber, wie sie sich an der Macht halten kann. Sie hat nach dem Coup wohl gemerkt, dass sie es zu weit getrieben hat. Selbst nordeuropäische Konservative waren angewidert, wie die deutsche Regierung mit gewählten Politikern umging. Als sie kurz danach ihre Haltung in Sachen Flüchtlingen änderte, war das wohl vor allem ihrem Machterhaltungstrieb geschuldet. Dann geriet sie innerhalb ihrer eigenen Partei unter Druck und machte einige furchtbare Zugeständnisse. Doch ich bin froh, dass sie die Grenzen geöffnet hat.
Zum Schluss nochmal zurück zur Bewegung: Es gibt von Blockupy über Attac und Altersummit bis zur Europäischen Linken viele andere Akteure in Europa, die bereits für Demokratie kämpfen. Was machen diese falsch, was »DiEM25« besser machen wird?
Nichts. Jede Bewegung hat ihre Grenzen. Auch »DiEM25« wird irgendwann an seine Grenzen kommen. Vielleicht ist es auch eine Blase, die gleich am 10. Februar wieder platzt, und am 11. Februar entsteht eine neue Bewegung. Wenn das nicht funktioniert, versuchen wir etwas Anderes.
Und, wie ist das Leben als Aktivist?
Es ist genial. Aber ich war schon immer Aktivist! Auf meiner ersten Demonstration war ich im Alter von vier Jahren zusammen mit meinen Eltern. Das war 1965 in Lamia und mein Vater nahm mich auf die Arme, weil die Demonstration von der Polizei angegriffen wurde.
Also sind Sie glücklicher als im Juni vergangenen Jahres.
Absolut. Sie wissen gar nicht, wie schmerzhaft es ist, Minister zu sein.
Für »neues deutschland« sprachen Simon Poelchau und Elsa Koester mit Varoufakis.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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