Das Berlinale-ABC
Arbeitsbedingungen. Die Konditionen, zu denen vor und hinter der Kamera, aber auch vor und hinter den glitzernden Festival-Fassaden geschuftet wird, sind zu Recht ein jährlicher Aufreger. Ver.di wird dazu referieren, die SPD darüber diskutieren und die Freie Arbeiter Union will demonstrieren (20.2.,18 Uhr, vom Berlinale-Palast/Potsdamer Platz zum Kino Babylon Mitte).
Abseitiges. Findet man bei der Berlinale zuhauf, als Beispiel sei die Reihe »Hachimiri Madness - Japanese Indies from the Punk Years« im Forum angeführt: explosiv-trashige und neu digitalisierte japanische 8-mm-Filme aus den Jahren 1977 bis 1990.
Bussi-Bussi. Nein! SIE auch hier? Wow, wer hätte das gedacht? Ja, super. Kann nicht klagen, hüstel. Doch doch, ganz toll. Und selbst? Ach ja? Ein Wahnsinnsprojekt jagt das nächste? Hat mich auch tootal gefreut. Ich soll nicht anrufen, Sie rufen an?
Cinema for Peace. Diese Veranstaltung ist die bucklige Festival-Verwandtschaft aus dem Thinktank. Jedes Jahr schmeißt sich die direkt aus den 80er Jahren herübergebeamte »Wir-im-Westen-sind-die-Guten«-Gala frech an die Berlinale ran und sonnt sich in deren mühsam erarbeitetem politischen Glanz.
Clooney, George. Noch so einer, der sich dauernd in diesem Glanz sonnt. Aber der sieht wenigstens gut aus.
Deutscher Film. Im letzten Jahr lief kein deutscher Film auf den Festivals in Cannes, Venedig und Locarno. Darum diskutiert die interessante Parallel-Veranstaltung »Woche der Kritik«: »Kino machen andere - warum der deutsche Film unter sich feiert«. In Berlin ist der deutsche Film natürlich zahlreich vertreten, etwa im Wettbewerb durch Anne Zohra Berracheds Schwangerschafts-Drama »24 Wochen« oder in der großen Retrospektive zum deutsch-deutschen Film der 60er Jahre.
Ehrenbär. Michael Ballhaus hat als ihr Leibkameramann die privaten Gemeinheiten Rainer-Werner Fassbinders und die cineastischen Blutbäder Martin Scorseses ertragen. Er hat die Bilder zu »Die Ehe der Maria Braun« und »Good Fellas« eingefangen. Er war unser bedächtiger Botschafter in Hollywood. Wenn ein Kameravirtuose den Ehrenbären verdient hat, dann dieser sanfte Riese des deutschen Films.
Exzess. Der exzessivste Film ist mit 485 Minuten Länge ziemlich eindeutig der philippinische Filmessay »Hele Sa Hiwagang Hapis« und der läuft sogar im Wettbewerb.
Flüchtlinge. Die Berlinale wäre nicht die Berlinale, würde sie nicht Zeichen für eine wärmere Willkommenskultur setzen. Im Rahmen der »Patenschaften für Kinobesuche« wurden gemeinnützige Berliner Organisationen der Flüchtlingshilfe vom Festival eingeladen, um Ehrenamtliche zu finden, die als Paten zusammen mit Geflüchteten Berlinale-Vorstellungen besuchen möchten. Außerdem bietet die Berlinale in Kooperation mit Betreuungszentren zehn bis 20 Geflüchteten die Möglichkeit, während der Festivalzeit in verschiedenen Arbeitsbereichen zu hospitieren - zu welchen Konditionen, wird zu klären sein (siehe »A«).
Glück. »Das Recht auf Glück« und der Kampf dafür - das ist laut Festivalchef Dieter Kosslick das bestimmende Motiv dieser Berlinale. Ging es nicht noch gefälliger?
Hommagen. David Bowie, Alan Rickman, Jaques Rivette sind tot. Es werden Berlinale-Tributes ausgerichtet.
Irrsinn. Die Welt ist nicht durch Naturereignisse »aus den Fugen geraten« - sie wurde aus den Fugen gerissen: absichtsvoll und aus niederen geopolitischen Beweggründen. Die Berlinale ist in zweierlei Hinsicht Medizin gegen den menschengemachten Irrsinn: Sie eignet sich entweder als temporäre Flucht vor der deprimierenden Macht- und Ausweglosigkeit - oder (im Gegenteil) als Bildungsstätte für anti-koloniale Positionen.
Jury. Die Bären werden vergeben von: Meryl Streep (Jury-Präsidentin, USA), Lars Eidinger (Deutschland), Nick James (Großbritannien), Brigitte Lacombe (Frankreich), Clive Owen (Großbritannien), Alba Rohrwacher (Italien), Małgorzata Szumowska (Polen).
Kino. Hingehen! Filme gucken! Darum geht es hier schließlich.
Kosslick, Dieter. Als Festivalchef und Maskottchen ist er ganz eindeutig die Seele vons Janze.
Liebe. Menschliche Zuneigung in (fast) allen Ausprägungen - und beileibe nicht nur zwischen Frau und Mann - wird in allen Berlinale-Sektionen ausführlich thematisiert.
Magie. Die Dunkelheit. Die Einsamkeit - oder gerade das gemeinsame Erleben. Vorfreude, letzte (Un-)Ruhe vor dem Sturm. Dann: eine Symphonie des Lichts, Überwältigung, Euphorie. Oder auch Wut und Unverständnis. Auf jeden Fall: Leben.
Native. Diese Reihe verspricht nicht nur »eine Reise in die Welt des indigenen Kinos« - sie bekundet Respekt vor den »Ureinwohnern«.
Objektivität. Gibt es bei der Berlinale nicht, und sie wäre auch völlig fehl am Platze. Dennoch erschienen einige Jury-Entscheidungen der Vergangenheit allzu rätselhaft. Es möge also bitte nicht der politisch bemühteste Film gewinnen, sondern der mitreißendste, traurigste, schönste oder extremste - auch wenn das eine US-Produktion sein sollte.
Politbüro. Es hatte etwas vom Einmarsch eines altgedienten Zentralkomitees, als der Festivalchef mit seinen SektionsleiterInnen bei der Pressekonferenz eintraf. Und so war der zur ziemlich bleiernen Routine erstarrte Programmvortrag auch etwa so spritzig wie ein CDU-Parteitag. Kosslicks Charme sprüht noch - aber vielleicht ist es nach 15 Jahren doch Zeit für einen Generationswechsel?
Queer. Mit den Preisen für die Regisseure Gus Van Sant und Pedro Almodóvar fing es an. Der Teddy Award ist der weltweit einzige offiziell queere Filmpreis auf einem A-Festival - vor 30 Jahren wurde er das erste Mal verliehen und wird seither in den Kategorien Kurz-, Dokumentar- und Spielfilm an queer-relevante Filme aus dem gesamten Berlinale-Programm vergeben. Das Jubiläumsprogramm zeigt 17 Filme.
Roter Teppich. Seiner Existenz verdanken wir obskure Berlinale-Konstruktionen wie »im Wettbewerb außer Konkurrenz«. In dieser Kategorie werden Filme gezeigt, nur um dadurch die Darsteller nach Berlin zu lotsen und sie über den roten Stoff stöckeln zu lassen. Das kann wunderbar sein, wie in diesem Jahr mit der Coen-Brüder-Komödie »Hail Caesar«. Es kann aber auch sehr würdelos sein, wie im letzten Jahr mit »Shades of Grey«.
Sponsoren. Dieser Punkt könnte auch mit »Skandal« überschrieben sein: Das Festival prostituiert sich als Bühne für international agierende Hardcore-Kapitalisten. Dadurch konterkariert es leider engagierte, in zahlreichen Berlinalefilmen propagierte Inhalte, wie: »Man hat immer eine Wahl.«
Schlange stehen. Es gehört zum Festival wie das Russenressentiment zur deutschen Medienlandschaft.
Tasche. Sie gehört zu den nervigsten Fetischobjekten für Wichtigtuer und öffentliche Berlinale-Bekenner: die Berlinale-Tasche. Das Prinzip des jährlich neuen Modells widerspricht nicht nur der Nachhaltigkeit. Es verstopft auch ästhetisch den öffentlichen Raum und steht mit seinem uniformierenden Effekt der angeblichen, von den Festivalbesuchern proklamierten Individualität diametral entgegen.
TV-Serien. Die Berlinale hat gerade noch die Zeichen der Zeit erkannt: Die Mattscheibe hat das Festival in Form von Serien-Screenings erobert - und wird es nicht wieder freigeben.
Uferlosigkeit. Über 400 Filme, zahlreiche Sektionen mit Untersektionen, ein verwirrendes Programm- und Ticketsystem, tausende Besucher, ein babylonisches Sprachgewirr: Im Bienenkorb Berlinale kann man sich verlieren und wiederfinden.
Verwertung. Laut der Berliner Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer sind die wirtschaftlichen Effekte der Filmfestspiele enorm. Viele Branchen würden von den über 19 000 Fachbesuchern und Journalisten profitieren, die nach Berlin kommen. Hinzu kämen die Touristen, die für Hotel, Restaurant, Transport und Eintritt bezahlen. 2013 seien für jeden für die Filmwirtschaft aufgewendeten Subventions-Euro rund 1,60 Euro in Form öffentlicher Einnahmen wieder an das Land Berlin zurückgeflossen. Insgesamt würden durch die Berlinale rund 380 zusätzliche Arbeitsplätze in der Hauptstadt geschaffen - nur was für welche (Siehe »A«)?
Wirtschaftskrieg. »Wir sind vor kurzem überrascht worden von dem Nachlegen der Franzosen und der Italiener in ihren Fördersystemen. Und daran erkennt man, dass wir uns in einem - man kann fast sagen - Wirtschaftskrieg befinden in unserem Sektor, der nur durch die öffentliche Hand gesteuert und verhindert werden kann«, so eine kurze, völkerverständigende Durchsage vom Vorstandsvorsitzenden von Studio Babelsberg, Carl L. Woebcken.
Xenophobie. Gibt es nicht bei der Berlinale. Diese offene Haltung - im Programm und durch die Kommunikationsmaschine Kosslick personifiziert - ist kompromisslos, ungekünstelt und respektabel.
Yak und Yeti. Sie haben in der Sektion Forum ihren Platz. Diese Filme aus aller Herren Länder kann man nur während des Festivals sehen, da sie keinen Verleih finden werden.
Zirkus. Die Manege ist angerichtet, der Clown und die Raubtiere stehen bereit.
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