Mare Monstrum

Im Wettbewerb: Die Dokumentation »Fuocoammare« von Gianfranco Rosi

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Dokumentarfilm wurde mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, dem Berlinale-Hauptpreis. Er nähert sich der Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer durch stille Beobachtungen auf der italienischen Insel Lampedusa.

Die Funksprüche brechen das Herz: »Helfen Sie uns! Habt Erbarmen! Wir sinken!« »Wie ist Ihre Position?« »Hilfe! Bitte! Wir kentern ...!« Dann plötzlich Stille. Eine grausame Stille, die den Tod hunderter Menschen bedeutet, und durch die in unserer Vorstellung - da wir nur einen Computermonitor sehen - unerträgliche Bilder entstehen. Diese Szene wurde von Regisseur, Autor und Kameramann Gianfranco Rosi in einer Zentrale der Küstenwache von Lampedusa gefilmt. Sie ist Teil seines schockierenden Mosaiks, das die Auswirkungen der Flüchtlingstragödien auf die winzige italienische Insel beschreibt. »Fuocoammare« (Feuer auf dem Meer) hat er seinen Dokumentarfilm genannt. Es ist der bisher stärkste Beitrag der Berlinale, und er rückt das Flüchtlingsthema mit Macht ins Zentrum des Festivals - auch wenn der Film zum Teil kritikwürdig ist.

Rosi hat keinen Elendsporno geschaffen. Zwar fängt er die Grausamkeit der Flucht in krasser Direktheit ein - mit seinen kaum erträglichen Bildern aus den Schiffsbäuchen der vor Lampedusa aufgebrachten Schlepperboote. Aber über weite Strecken folgt der Zuschauer Einheimischen bei ihrem erstaunlich unmodernen Alltag: dem zwölfjährigen Jungen Samuele, einem Fischer, älteren Eheleuten - und dem Arzt Pietro Bartolo. Und während Samuele und die anderen Protagonisten eher dafür stehen, wie auf dem idyllischen Eiland zwei parallele Welten entstanden sind, die sich (zumindest in diesem Film) kaum berühren, so symbolisiert Bartolo das ungebremste Aufeinandertreffen größter Verzweiflung mit dem westlichen Wohlstandsreich.

Bartolo war neben Regisseur Rosi beim Berlinale-Gespräch über den Film anwesend. Der Arzt war seit dem ersten, 1990 vor Lampedusa gestrandeten Flüchtlingsboot immer wieder vor Ort, wenn die heillos überladenen Schiffe in letzter Sekunde gerettet wurden - und auch wenn die Rettung zu spät kam. Und auch schon bevor die Marine mit »Mare Nostrum« dazu überging, die Schiffe auf hoher See zu retten, die Flüchtlinge also direkt an der Küste landeten.

Bartolo musste tote Kinder zählen, Frauen starben unter seinen Händen, noch nachdem sie die Überfahrt überstanden hatten. Er erzählte von Menschen, die in ihrer Verzweiflung ein fatales Wasser-Benzin-Gemisch tranken, er blickte in Schiffe, in denen Dutzende Menschen erstickt waren. Aber es gelang ihm auch immer wieder, Frauen, Kinder, Männer nochmals aus dem Tod zurückzuholen. Ein kaum vorstellbares Wechselbad aus Leid und Wundern, das Bartolo noch immer Albträume beschert und ihm »ein Loch in den Bauch reißt«.

Der Arzt brach in Berlin auch eine Lanze für die 4000 Seelen zählende Bevölkerung Lampedusas, die bereits Hunderttausenden Geflüchteten temporären Schutz geboten hat: »Lampedusa protestiert nie. Auch nicht die Fischer, die oft die Ersten bei den Flüchtlingsbooten sind. Wir sind ein Volk des Meeres, das alles, was vom Ozean kommt, willkommen heißt.« Es waren solche Sätze, die jede deutsche »Das-Boot-ist-voll«-Rhetorik verstummen lassen sollte; Sätze, die in Berlin zahlreiche gestandene Journalisten zu Tränen rührten. Hat man jedoch den Film gesehen, muss man das Meer auch als eiskaltes Monstrum betrachten. Als ein Monstrum, dem sich Menschen nur ausliefern, wenn es in ihrer Heimat (auch und vor allem durch westlich-kapitalistische Kriege und Raubzüge) unerträglich geworden ist.

Der Film ist kunstvoll komponiert und bei den Protagonisten hat man zunächst den Verdacht, hier könnten Schauspieler verwendet worden sein. Etwa der 12-jährige Samuele (aber auch Dr. Bartolo) haben eine starke Leinwandpräsenz. Rosi, der seinen Film »unabsichtlich politisch« nennt und das Licht als einen Hauptdarsteller bezeichnet, konnte als Ein-Mann-Team große Intimität herstellen - bei den schockierenden Rettungsaktionen auf See, aber auch im Wohnzimmer der anderen Protagonisten oder in den Flüchtlingsunterkünften: Hier sieht man Fußballspiele, bei denen »Libyen« gegen »Syrien« antritt, oder lauscht einem Nigerianer, der in bewegenden Klagegesängen seine Odyssee über die Sahara, Libyen und das tödliche Mittelmeer beschreibt.

Ob man die grausamen Bilder sterbender Menschen zeigen darf, mit denen Rosi den Zuschauer malträtiert, fragen nun einige Medien. Man muss diese Frage bejahen. Der Dokumentarfilm ist genau das Medium, in dem man Bilder, die in den 20-Uhr-Nachrichten etwa aus Rücksicht auf Kinder ausgespart werden, zeigen darf. Ohne sie würde »Fuocoammare« nicht funktionieren.

Die Kritik könnte an anderer Stelle ansetzen. Denn Rosi setzt jene atemlose, nur im Moment verharrende Sichtweise fort, die allgemein die hiesige Flüchtlingsdebatte bestimmt. Rosi zeigt einen nicht enden wollenden, fast schon naturgegebenen Notstand, der sofort verwaltet werden muss. Angesichts des akuten Elends in »Fuocoammare« verbieten sich zunächst alle Frage nach den geopolitischen Fluchtursachen. Doch nach der Ersten Hilfe drängen sie sich dann doch auf. Nicht jedoch in diesem Film. Denn hier endet die Erste Hilfe nie. Hier ist an ein Nachdenken, ja an ein Atemholen nicht zu denken.

Da war es überraschend, dass sowohl Rosi als auch Bartolo nach der Filmvorführung vehement forderten, dass die für die Flüchtlingstragödien verantwortlichen »Supermächte« endlich auch jene Verantwortung übernehmen sollten. Denn diese Forderung unterstützt der Film nicht. Stattdessen setzt er den zufällig betroffenen Helfern ein Denkmal, und forciert die falsche Position, nach der »wir alle« für die Tragödien verantwortlich sind.

Trotz dieser Kritik wäre es verwunderlich, wenn andere Filme der Berlinale gegen diese Wucht der Aktualität - aber auch der Ästhetik und der Dramaturgie - noch eine echte Chance hätten.

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