Das kalte Grausen

Perspektive deutsches Kino: Auf der Suche nach der Rolle im Leben

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Kurt Tucholsky wird man mehrfach begegnen in den jungen deutschen Filmen dieses Jahres. Die Inspiration zu »Valentina« zum Beispiel lag in einem Rilke-Zitat, das sentimentale Binsenweisheiten über die innere Schönheit der Armut verbreitet. Am Ende des Drehs aber stand ein Satz von Tucholsky: »Armut ist eben gewiss kein großer Glanz von innen, wie Vater Rilke das nannte, sondern eine einzige Sauerei«. Und eine Sauerei muss man es wohl nennen, wenn eine aufgeweckte Zehnjährige davon spricht, sich schlimmstenfalls mit einer Glasscherbe umzubringen - und auch allen Grund dazu hätte.

Die Zehnjährige, das ist Titelheldin Valentina, die hellwache und höchst fantasiebegabte Tochter einer vielköpfigen Roma-Familie in einem Vorort von Skopje, Mazedonien. Da hausen drei Generationen in einer Einzimmer-Bruchbude, nur drei der Töchter sind im Heim gelandet, weil sie bettelnd auf der Straße aufgegriffen wurden. Teil einer wohl verbreiteten Arbeitsteilung: Die Männer sammeln Lumpen oder sitzen rum, die Frauen fegen, betteln oder kriegen Kinder. Ein trostloses Leben ohne Perspektive auf Besserung, gefilmt in zeitlosem (und nebenbei leicht armutsglättendem) Schwarzweiß und begleitet von Valentinas lebhaften Erzählungen über ihre Eltern, ihre Geschwister und ein Familienleben weit, weit unterhalb der Armutsgrenze.

Der Vater hat mal in einem Film von Emir Kusturica einen uniformierten Schlächter gespielt. Valentina träumt nachts von blutrünstigen Vampiren, die die ältere Schwester holen, und tagsüber davon, selbst mal den Helden in einem Actionfilm abzugeben. Eine frühe Verheiratung gegen ein Brautgeld von ein paar Schachteln Zigaretten ist die wahrscheinlichere Zukunft - so wie es schon Mutter und Schwester erging. Für die beiden Filmemacher, Maximilian Feldmann (Buch, Regie, Ton) und Luise Schröder (Buch, Kamera), werden sich mit diesem nachdenklichen Diplomfilm nun wohl bessere Perspektiven eröffnen. Dass sie die Familie für ihre Einblicke bezahlten, daraus macht ihr Film dann immerhin auch keinen Hehl.

Und noch einmal Tucholsky: Nicht nur für das ultimative Zitat zum Thema Armut ist er gut, sondern auch als Autor perfekter Vorstellungsrollen für angehende Schauspielschüler. Mit seinem Lottchen wird eine der Bewerberinnen an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover eine Aufnahmeprüfung bestehen, die es in sich hat: »Die Prüfung« von Till Harms ist das dokumentarische Kernstück der diesjährigen Perspektive deutsches Kino, der Berlinale-Plattform für den einheimischen Regie-Nachwuchs.

Über Schauspielschulen gibt es wunderbare Filme, dokumentarische und fiktionale gleichermaßen. »Die Prüfung« kann vom ersten Bild an mithalten. Was mit den Glückwünschen zum Studienplatz beginnt (manch‘ Bewerber mag es erst kaum glauben), springt dann zurück zur allerersten Auswahlrunde. Man fiebert mit, ergreift Partei, sucht seine Lieblingskandidaten unter denen, die eine Runde weiterkommen. Zwar muss hier keiner um sein physisches Überleben kämpfen. Aber um ihren großen Traum, um Ausdruck und Identität und die Vielgestalt von beidem ringen sie alle, die engagierten Lehrer und die hoffnungsvollen Kandidaten gleichermaßen. Untereinander, miteinander, gelegentlich auch gegeneinander.

Nach einer eigenen Rolle, einer Identität zwischen Herkunftsort und neuer Heimat, zwischen dem Libanon und den Berliner Außenbezirken, sucht auch der Held des Spielfilms »Meteorstraße« von Aline Fischer, ein junger Palästinenser zwischen zwei gleichermaßen feindlichen Standorten. Und gleich zwei Kurzfilme von Schülern der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf thematisieren die Probleme des Heimisch-Werdens an einem abweisenden Ort. Manuel Inacker widmet mit »Pallasseum - Unsichtbare Stadt« einem Wohnblock in Berlin-Schöneberg, in dem 2000 Menschen aus 25 Ländern in 514 Wohnungseinheiten miteinander auskommen müssen, einen künstlerischen Kurzfilm.

Und Sophia Bösch und Sophie Lindenbaum zeigen in »Meinungsaustausch«, wie eine solche Gemeinschaftsbildung scheitern muss, wenn Alteingesessene und Neuzugänge sich nicht auf Augenhöhe treffen. In bloßen vier Minuten verschaffen sie dem Zuschauer einen erschreckenden Einblick in die Pegida-Mentalität mancher Berliner Bürger. Was die ihnen im Herbst 2015 in die Mikrofone sprachen, unterlegten Bösch und Lindemann mit bewegten Aufnahmen junger Migranten vor Berliner Kulisse. Nun schallt also scheinbar aus deren Mund, was der Berliner als solcher so von Flüchtlingen und Asylbewerbern hält, wenn die plötzlich seine Nachbarn sein sollen. Man kann das kalte Grausen kriegen.

Und wieder an Tucholsky denken: »Die Grausamkeit der meisten Menschen ist Fantasielosigkeit und ihre Brutalität Ignoranz.« Ein Satz, den auch »Hinter dem Schneesturm« illustriert, Gewinner des Dokumentarfilmpreises beim First Steps Award und in der Perspektive als Gastbeitrag zu sehen. Beharrlich fragt Filmemacher Levin Peter da seinen sich stur und stumm gebenden Großvater, wie es sich einst angefühlt habe, als Soldat in einem fremden Land zu stehen. Er habe habe mit den Massengräbern in der Ukraine nichts zu tun gehabt und schon damals nicht gewusst, was er dort eigentlich solle, grantelt der Alte - aber Befehl ist eben Befehl. Und dann gibt er doch zu, die vielen Toten gesehen zu haben, die zerstörten Orte, die baumelnden Gehenkten. Die, die das taten - wie sahen die denn aus? »Na, so wie du und ich.«

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