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»Kekse und Tee für die Geister«
Friedrich Ani hat einen Kommissar erfunden, der sich neben dem Üblichen bewegt, und bekam den Deutschen Krimipreis
Er ist erst seit zwei Monaten im Ruhestand, doch Jakob Franck wird wohl nicht so bald zur Ruhe kommen, denn Friedrich Ani hat mit ihm offensichtlich noch manches vor. In Kartons und Kisten hat der einstige Kriminalhauptkommissar Material über Fälle von damals gesammelt, die rätselhaft geblieben waren. Mit dem Tod der 17-jährigen Esther vor über zwanzig Jahren hätte er sich indes wohl nicht noch ein weiteres Mal beschäftigt, wäre nicht ihr Vater bei ihm vorstellig geworden. Dass es kein Selbstmord gewesen sei, sondern Mord, dieser Gedanke hatte Ludwig Winther nicht zur Ruhe kommen lassen, zumal seine Frau ein Jahr nach dem Tod der Tochter auf gleiche Weise aus dem Leben gegangen war.
Dass es nun Ermittlungen à la Sherlock Holmes geben würde, darauf könnte man sich einstellen. Aber nein, Jakob Franck ist auch mit Hercule Poirot nicht verwandt. Schon gar nicht könnte man sich vorstellen, wie er mit einer Pistole im Anschlag hinter einer Tür lauert oder einen Verbrecher gar per Faustschlag zur Ruhe bringt. Für sowas wurde er offenbar auch nur noch selten eingesetzt. Sein Amt war es über lange Jahre, den Hinterbliebenen die Todesnachricht zu bringen. Wovor andere sich scheuten, das übernahm er bereitwillig. Ein Trauerbegleiter aus innerstem Antrieb - es wird Gelegenheit sein, noch tiefer in seine Seele zu schauen.
Esthers fassungslose Mutter hat er fast sieben Stunden in seinen Armen gehalten, umweht vom Duft nach Apfelkuchen, der aus der Küche kam. Es war doch so ein selbstbewusstes Mädchen gewesen. Wie konnte es sein? Dass Ludwig Winther nun so vehement den Selbstmord bestreitet, während er damals eher verschlossen gewesen war, macht Franck stutzig. Hatten er und sein Frau der Polizei ein falsches Bild ihres Familienlebens vorgegaukelt, »um so die Hintergründe des Ereignisses auf sich beruhen zu lassen«? Die »Tentakel der Schuld« ließen den Mann offensichtlich nicht los, doch war »die Lüge von damals der Mantel, den Winther immer noch trug«. Da kommt einem schon auf Seite 40 ein Verdacht, und man sich kann im Laufe der Lektüre befragen, warum dieser so naheliegend ist.
Was wirklich geschah, wird sich allerdings erst am Schluss aufklären, ohne dass darum ein großes Trara gemacht würde. Es ist dies, wie gesagt, ein Krimi von eigener Art - zu Recht bekam der Autor dafür jetzt den Deutschen Krimipreis -, sehr sprachbewusst, weniger von Aktion als von Nachdenklichkeit lebend. Schon während seiner Dienstzeit in der Mordkommission hatte Franck seine Methode der »Gedankenfühligkeit« praktiziert: sich auf den Boden legen und seine Gedanken an die weiße Zimmerdecke projizieren, wobei darauf zu achten war, »was er bei jedem Puzz-leteil empfand«. Dabei musste er »das Schreckliche, Unbegreifliche, Unzusammenhängende, das Chaos und das Labyrinth des Verbrechens als etwas Natürliches wahrnehmen, das ihn berührte wie eine Hand oder der Anblick des Meeres als Kind«.
Das Verbrechen also nicht als eine zu ahndende Störung der Ordnung, sondern etwas zu dieser gehöriges? Auf den ersten beiden Seiten wird ein Mord beschrieben. Ein Mann erdrosselt seine Frau, und der kleine Sohn hockt hinter dem Sofa, wird zum Zeugen. Rätselhaft bleibt diese Szene, auch als sie sich nach 122 Seiten wiederholt. Erst später kommt Licht in die Sache, aber das auch auf unerwartete Weise.
In Ich-Form geschrieben, fällt diese Szene aus dem Roman heraus, wirkt am Anfang sogar eher verstörend, als ob anstrengende Lektüre zu erwarten sei. Dem ist aber nicht so, die Geschichte nimmt bald gefangen, wenn man mit Jakob Franck warm geworden ist. Dieser Mann - nicht alt, aber grau - er hat so viel gesehen, dass es ihm schon Gewohnheit ist, sich von Toten umgeben zu fühlen. Er stellt Kekse und Tee bereit, setzt sich mit ihren Geistern an den Tisch und unterhält sich gleichsam mit ihnen über Motive und Absichten. Die Aufklärung eines Mordes als spiritueller Akt, um dem Opfer Frieden zu geben: ein Kommissar, den Gesetzen des Mythos treu? Aber darin besteht ja ein Reiz dieses Buches, dass es sich mitunter ein ganz klein wenig neben der Wirklichkeit des heute Üblichen bewegt.
Suhrkamp kündigt eine Serie an. Es ist zu erwarten, dass der eigenbrötlerische, vergrübelte, sensible Charakter des Jakob Franck auch über weitere Krimis trägt. Als Menschen würde man ihm ja wünschen, dass er wieder mit seiner geschiedenen Frau zusammenkäme, aber als literarische Gestalt würde er eine Besonderheit verlieren. Sein Spürsinn zehrt von Einsamkeit.
Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck. Roman. Suhrkamp. 299 S., geb., 19,95 €.
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