Der lange Schatten der Erwerbsarbeit
Thomas Gesterkamp hält die Einführung von 24-Stunden-Kitas für ein falsches Signal
Lorenz Caffier, der CDU-Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, will in Rostock eine Kita durchsetzen, die Tag und Nacht geöffnet ist - mit dem Ziel, im Schichtdienst arbeitende Eltern zu entlasten. Steffen Bockhahn, der Sozialsenator der Hansestadt, zögert mit seiner Zustimmung. Bedenken hat der LINKE nicht nur wegen der unklaren Finanzierung des Projektes, er verweist auch auf das Kindeswohl.
Auf den ersten Blick wirkt das wie eine verkehrte Welt. Waren es doch überwiegend konservative Politiker, die einst gegen die angebliche »Fremdbetreuung« polemisierten - während fortschrittliche Kräfte vehement den Ausbau der öffentlichen Einrichtungen forderten. Doch im aktuellen Streit um die Rostocker 24-Stunden-Kita geht es nicht um die polarisierten Kontroversen der Vergangenheit. Der Disput dreht sich um die sehr grundsätzliche Frage, wie weit ins Privatleben der lange Schatten der Erwerbsarbeit eigentlich reichen soll.
Diktiert das Zeitregiment der Arbeitgeber, wann Beschäftigte mit ihren Kindern zusammensein können? Oder gibt es jenseits betrieblicher Interessen auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen und Institutionen, Eltern entgegenzukommen? Klar, bestimmte Nachtschichten etwa bei der Polizei oder in Krankenhäusern sind unvermeidbar. Doch diese sollten die Ausnahme sein und nicht zur akzeptierten Regel werden.
Unter dem Motto »twenty-four/ seven« propagieren Unternehmensberater seit Längerem ein angeblich modernes Arbeitsprinzip: stets im Einsatz, 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche. In der Firma zu Hause und zu Hause online. In einer solchen Rund-um-die Uhr-Ökonomie wird es kompliziert abzuschalten und einen klaren Strich zwischen den verschiedenen Lebensbereichen zu ziehen - nicht nur als Arzt oder Streifenbeamter.
Schon die übliche 40-Stunden-Woche plus Wegezeiten und freiwillige Mehrarbeit ist für Familien ein ständiger Balanceakt, wenn beide Elternteile eine volle Stelle haben. Im Westen Deutschlands wurde dieses Vereinbarkeitsdilemma jahrzehntelang durch den männlichen Alleinverdiener oder zumindest Hauptverdiener geregelt, im Osten durch umfangreiche Angebote staatlicher Betreuung. Gemeinsame Familienzeiten für alle Beteiligten sahen beide Modelle vorrangig am Wochenende vor.
Nicht umsonst hat die Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert immer wieder für eine Verkürzung der Arbeitszeit gestreikt. Hinter dem heute altmodisch klingenden Begriff »Feierabend« verbarg sich stets eine historische Errungenschaft, ein persönliches Refugium. Denn Spielräume für Familie und Freunde, für Hobbys oder Ehrenämter können sich nur ergeben, wenn das Private nicht zum Restposten verkommt, sich Lebensentwürfe nicht vollständig der entlohnten Tätigkeit unterordnen müssen.
Das Engagement der Kirchen für den freien Sonntag, der Widerstand der Gewerkschaften gegen unnötige Samstagarbeit, der Versuch von Betriebsräten, abendliche Überstunden einzuschränken: Das sind keine nostalgischen Kämpfe, sondern wichtige Elemente einer Auseinandersetzung, in der sich Arbeitnehmer der Erwerbswelt als einzigem Taktgeber verweigern.
Erst recht gilt dies für das Recht von Eltern, (gemeinsame) Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können. Gerade jene, die immer für die öffentliche Betreuung eingetreten sind, sollten sich von den Lobbyisten der Rund-um-die-Uhr-Ökonomie nicht irritieren lassen. Selbstverständlich brauchen wir Lösungen für Eltern, die parallel im Schichtdienst tätig sind - etwa durch den verstärkten Einsatz bezahlter Helferinnen und Helfer, die den Nachwuchs dann zu Hause betreuen. Und selbstverständlich kann auch ein kleines Kind im Notfall mal eine Nacht außerhalb seiner gewohnten Umgebung verbringen. Die 24-Stunden-Kita aber setzt ein falsches Signal. Sie liegt nicht im Interesse von Familien, sondern von Betrieben, die an gewohnten Abläufen festhalten und keine Verantwortung übernehmen wollen.
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