»Die Bevölkerung muss den Druck erhöhen«
Mit links regieren? Im Gespräch: Barcelonas Vizebürgermeister Gerardo Pisarello
Barcelona En Comú regiert jetzt etwas länger als ein halbes Jahr, und mittlerweile haben Sie den ersten großen Konflikt. Im öffentlichen Nahverkehr wurde zu einem Streik aufgerufen, und Bürgermeisterin Ada Colau ist mit der linken Basisgewerkschaft CGT aneinandergeraten. Hat es sich gelohnt, in die Institutionen zu gehen? Oder werden Sie wie viele andere Linke vor Ihnen von den Institutionen assimiliert?
Wir mussten zunächst mal begreifen, was es bedeutet, wenn die Rechte die Institutionen so lange beherrscht. Erst als wir die Stadtregierung übernahmen, haben wir gemerkt, wie stark die Rechte Privatisierungsprojekte und die Kommerzialisierung der Stadt schon vorangetrieben hat. Allein um diese Prozesse zu bremsen, lohnt es sich, in die Institutionen zu gehen.
Aber es stimmt, dass jetzt die Probleme beginnen. Eine Kandidatur wie unsere, die keine Unterstützung von Konzernen und Medien hat, kann in einer repräsentativen Demokratie vielleicht einmal eine Wahl gewinnen, aber das sicher nur mit knapper relativer Mehrheit. Wir stellen 11 von 41 Abgeordneten im Stadtparlament. Die meisten Projekte müssen wir mit der Opposition aushandeln, die uns schwächen will.
Trotzdem haben wir wichtige Dinge bewegt. Wir haben zum Beispiel einen Sonderhaushalt von mehr als 100 Millionen Euro zur Armutsbekämpfung verabschiedet. Es werden dreimal so viele kostenlose Essen für Kinder ausgegeben, die Hilfen für die Unterbringung von Wohnungslosen haben wir ebenfalls verdreifacht. Wir haben die Privatisierung von Kindergärten und Gesundheitszentren gestoppt. Und das alles haben wir auch mit Mitteln des Ungehorsams durchgesetzt. Denn um den Etat verabschieden zu können, mussten wir Lücken in der Gesetzgebung suchen.
Unsere vorläufige Bilanz könnte man also folgendermaßen zusammenfassen: Es gibt viele faktische Mächte in den Institutionen, die Veränderungen verhindern. Und die Bevölkerung erwartet mehr. Aber damit mehr möglich ist, muss die Bevölkerung auch den Druck für Veränderungen erhöhen.
Erhöhung der Sozialausgaben, Stopp der Privatisierungen - das will auch die traditionelle Linke. Ihr Ziel war es, die Institutionen zu verändern und gemeinsam mit der Bevölkerung zu regieren.
Immer wenn wir weniger bürokratische Formen der Partizipation etablieren wollen, reagiert die Opposition mit erbittertem Widerstand. Sie bezeichnet uns als »Populisten« und startet eine Medienkampagne. Aber wir wollen einen »Munizipalismus der Straße«: Wir machen offene Versammlungen in den Stadtteilen, bei denen die Bevölkerung ihre eigenen Forderungen entwickeln kann. Die Erweiterung der Partizipation - sowohl über Stadtteilversammlungen als auch über digitale Medien- ist ein zentraler Aspekt unseres Programms.
Es ist allerdings auch wahr, dass viele mit dem 15M entstandenen Bewegungen schwächer geworden sind. Das liegt u.a. daran, dass die Bevölkerung Erwartungen an die Stadtregierung delegiert. Und das ist ein Problem, dessen Lösung nicht allein in unseren Händen liegt. Wir rufen die Leute permanent dazu auf, auf die Straße zu gehen. Denn ohne gesellschaftlichen Druck, ohne die Autonomie der Bewegungen wird es keine Veränderung geben.
Warum ist der Konflikt mit den Busfahrern dann eskaliert? Die basisdemokratischen und kämpferischen Überzeugungen der CGT müssten Sie doch eigentlich teilen.
Es ist ein normaler Arbeitskonflikt. Es werden neue Tarifverträge ausgehandelt, und die Gewerkschaften setzen ihre Instrumente ein, um Druck auszuüben. Das ist völlig logisch, und wir respektieren das. Es stimmt allerdings auch, dass die direkt bei der Stadt Beschäftigten nicht diejenigen sind, die am stärksten unter der Prekarisierung leiden. In Barcelona ist ein großer Teil des öffentlichen Dienstes outgesourcet worden. Es gibt Leiharbeiter und Scheinselbstständige, und wir denken, dass Verbesserungen für diese Leute Priorität haben sollten. Für die Gewerkschaften - ich meine jetzt ausdrücklich nicht die CGT - sind die prekär Beschäftigten oft nicht so zentral.
Wir haben es also mit einem legitimen Streik zu tun - allerdings von Leuten, die unserer Meinung nach nicht die schlechtesten Beschäftigungsbedingungen haben. Wir wollen verhandeln, aber wir sehen auch, dass der Streik alle Menschen in Barcelona trifft. Wir müssen also einen Ausgleich finden. Das Wichtigste ist, dass eine Stadtregierung, die gesellschaftliche Veränderungen will, solche Streiks nicht als Angriff sehen darf, sondern ihr transformatorisches Potenzial erkennen muss.
Ihr Landsmann, der argentinische Philosoph Miguel Benayasag unterscheidet zwischen Politik und Verwaltung. Politik ist bei ihm immer horizontal und selbstorganisiert, die Verwaltung dagegen muss den Kompromiss und technische Lösungen suchen. Benayasag vertritt, dass gesellschaftliche Brüche, die etwas Neues ermöglichen, nur aus der »horizontalen« Politik und nie aus den Institutionen kommen können.
Man muss die Möglichkeiten und Grenzen von Institutionen kennen. Sie können die Voraussetzungen für soziale Kämpfe und Selbstverwaltung enorm verbessern. Man kann aus den Institutionen heraus Genossenschaften oder Multis fördern, mit Repression gegen Proteste vorgehen oder Repression verhindern. Es ist also nicht egal, wer die Institutionen kontrolliert. Es ist ein Ort, an dem man dafür sorgen kann, dass die Welt, in der wir leben, weniger brutal ist.
Die Herausforderung ist, das zu tun, ohne den utopischen Horizont zu verlieren und ohne die horizontale Politik aufzugeben. Du musst rote Linien definieren, aber auch mit den täglichen Widersprüchen umgehen. Die Verbindungen einer Stadt wie Barcelona mit dem globalen Kapitalismus lassen sich nicht einfach kappen. Und Veränderungen werden auch nicht in erster Linie durch eine gute Stadtregierung ermöglicht, sondern durch dauerhafte gesellschaftliche Mobilisierung.
Sie sind Mitglied der Organisation Procès Constituent, die einen konstituierenden Prozess vorschlägt, wie es ihn in einigen Ländern Südamerikas zwischen 1999 und 2007 gab. Katalonien arbeitet an einer neuen Verfassung und an der Gründung einer unabhängigen Republik. Ist das der »verfassunggebende Prozess«, auf den Sie hingearbeitet haben?
Die Situation ist nicht mit der in Lateinamerika zu vergleichen. Dort sind die politischen Systeme regelrecht kollabiert, wodurch sich das Feld für grundlegende Veränderungen geöffnet hat. Im spanischen Staat gibt es zwar eine Krise, aber es ist kein Kollaps in Sicht.
Es stimmt, dass die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen als demokratische Bewegung Spielräume eröffnet hat, wie sie auf spanischer Ebene nicht existieren. Es gibt hier einen Raum für eine Verfassungsdebatte und für Veränderungen. Das ist noch nicht das, was wir uns wünschen. Die katalanische Verfassungsdebatte wird nämlich weiterhin von politischen Parteien und bestehenden Institutionen dominiert. Aber immerhin öffnet sich ein Raum, und unsere Aufgabe ist es, die Demokratisierung weiter voranzutreiben - damit es eben nicht nur um eine neue Verfassung geht, sondern tatsächlich ein gesellschaftlicher Prozess daraus wird.
Im Ausland wird vor allem über Podemos gesprochen. Im spanischen Staat scheint mir Ada Colau eine größere Strahlkraft zu besitzen als Pablo Iglesias. Und der »Munizipalismus« der alternativen Listen steht auch für ein anderes Konzept von Politik: Es geht nicht nur um Regierungswechsel, sondern um den Aufbau basisdemokratischer Bewegungen aus den Stadtteilen und Gemeinden heraus. Andererseits steht das Bündnis Ahora Madrid in der Hauptstadt kurz vor dem Zerfall. Wird der Munizipalismus als politisches Projekt Bestand haben?
Nur wenn er sich mit anderen Transformationsprojekten verbündet - in anderen Städten, mit politischen Bewegungen im Staat, mit internationalen Bewegungen gegen die Austerität wie DiEM25. Deshalb ist für uns das Netzwerk der »Rebellischen Städte« so wichtig, also die Koordination mit den anderen Stadtregierungen. Dieser Archipel muss Verbindungen nach Europa und in den globalen Süden, nach Lateinamerika knüpfen. Wir brauchen unkontrollierbare Dynamiken, die den Rahmen aufsprengen. Nur dann werden wir etwas bewegen können.
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