Ist Britanniens Boot voll?

Alarmmeldungen behaupten, die Insel werde zu klein für ihre Bevölkerung

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Viele Briten fürchten, dass das schnelle Bevölkerungswachstum große Probleme für das Land bringen wird. Doch Experten meinen, das Wachstum werde der Wirtschaft zu Gute kommen.

Viele Briten sehen eine »Malthusianische Katastrophe« auf ihre Insel zukommen - so wie vor über 200 Jahren ihr Landsmann Thomas Robert Malthus (1766 - 1834) schon einmal. In seiner Streitschrift »Versuch über das Bevölkerungsgesetz« (1798) hatte der Sozialphilosoph explosionsartig wachsende Bevölkerungszahlen bei nur bescheiden wachsender Lebensmittelerzeugung und damit die Katastrophe für die Menschheit heraufziehen sehen. Es ist bekanntlich anders gekommen.

Nun befindet sich Britannien wieder in einer malthusianischen Angstdebatte. Ihre Kernbotschaft: Unsere Insel wird zu klein, das Bevölkerungswachstum ist zu groß. Aktueller Hintergrund ist die rasche Zunahme der Bevölkerung der Hauptstadt - London vermerkte 2015 mit 8,6 Millionen einen Allzeitrekord und wird für 2050 mit elf, möglicherweise 13 Millionen vorhergesagt -, zum anderen das rasche Wachstum der Landesbevölkerung. 2014, das Jahr mit den neuesten Zahlen, betrug Großbritanniens Einwohnerzahl knapp 65 Millionen. Auch das ist ein neuer Landesrekord.

Beim jetzigen Tempo rechnet das Office for National Statistics bis zum Ende dieses Jahrzehnts mit einer Zunahme um weitere 4,6 Millionen Einwohner, »dem größten Zuwachs in den vergangenen 50 Jahren«. Der »Guardian« berichtete, Statistiker sagten voraus, »dass das Königreich im Jahre 2030 eine größere Bevölkerung als Frankreich und bis 2047 eine größere als Deutschland haben wird, was diese sehr viel kleinere Landmasse zum bevölkerungsreichsten Land Europas machen würde«. Zum Vergleich: Britanniens Gesamtfläche beträgt 243 610, Frankreichs 549 087 und Deutschlands 357 170 Quadratkilometer.

Die rasche Bevölkerungszunahme erscheint vielen Briten umso größer, als sie selbst für viele Experten unerwartet eintrat. Der »Guardian« zitiert in dem Zusammenhang den Professor für Geografie an der Universität Oxford, Danny Dorling: »Ich glaube, niemand hat die Bevölkerungswende kommen sehen, als sie in den 90er Jahren einsetzte. Im Königreich neigen wir allgemein nicht dazu, solche Dinge rasch zu erkennen.« Nun ist der Groschen gefallen, und die Ängste bilden ein latentes Hintergrundrauschen bei vielen Debatten: um fehlende Schulplätze, um Überforderung des einst stolzen, heute ausgehöhlten NHS (staatlicher Gesundheitsdienst), über die Wohnungskrise, um die Flüchtlingsfrage, über verstaute Autobahnen oder um einen britischen Dauerzwist: die schnellere Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung im Großraum London und dem englischen Südosten auf der einen sowie dem hinterherhinkenden britischen Norden andererseits.

Schon vor sechs Jahren hatte eine parteiübergreifende Kommission, zu der Prominente wie der frühere Erzbischof von Canterbury Lord Casey, der Wirtschaftshistoriker Lord Skidelsky und der Labour-Unterhausabgeordnete und Armutsexperte Frank Field gehörten, eine »Bevölkerungsdeklaration« herausgegeben. Sie warnte davor, dass eine Landesbevölkerung von 70 Millionen (beim jetzigen Trend ist die im Jahr 2030 erreicht) »ernsthaft den künftigen Zusammenhalt unserer Gesellschaft beschädigen würde«.

Doch es gibt auch ganz andere Stimmen. Diese fordern vor allem, das Thema nicht nur negativ zu diskutieren. Jonathan Portes vom Nationalen Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung etwa hält dem Alarmismus entgegen, dass das Bevölkerungswachstum auch der Wirtschaft zu Gute komme. Zudem möge Großbritannien hier auch nicht vergessen, welche negativen Folgen Entvölkerungsschübe in seiner Geschichte - in Aschenputtel-Regionen von Schottland oder Wales etwa - gehabt hätten. Portes erinnerte daran, dass vor 40 Jahren selbst die Hauptstadt London, als die Einwohnerschaft in innerstädtischen Bezirken um 20 Prozent geschrumpft war, das Schicksal des Jüngsten Tages prophezeit wurde. Auch da nahmen die Dinge des Lebens eine andere Wendung.

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