Bruch und Kontinuität
Die Geheimrede von Nikita Chruschtschow vor 60 Jahren auf dem XX. Parteitag der KPdSU
Zwei Wochen vor dem XX. Parteitag entschied der seit September 1953 fest im Sattel sitzende Erste Sekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, einen Generalangriff auf seinen drei Jahre zuvor verstorbenen Vorgänger. Er ließ in aller Eile von einer Kommission unter ZK-Sekretär Pjotr Pospelov einen umfangreichen Bericht über die Verbrechen von Josef Stalin erarbeiten. Nach kontroversen Debatten im ZK stimmte die Mehrheit dem Urteil ihres Ersten Sekretärs zu. Das Protokoll vermerkt: »Stalin war der Sache des Sozialismus treu, aber er machte alles mit barbarischen Methoden. Er vernichtete die Partei. Er ist kein Marxist ... Wir haben alle mit Stalin gearbeitet, aber das verpflichtet uns nicht mehr, nachdem solche Tatsachen aufgedeckt sind. Wir müssen über ihn berichten, andererseits würden wir seine Handlungen rechtfertigen.«
Chruschtschow sollte zum Abschluss des Parteitages den kollektiv bestätigten Geheimbericht »Über den Personenkult und seine Folgen« vortragen. Es ging darin um »die für die Partei in Gegenwart und Zukunft« wichtigste Frage, »wohin in der Praxis der Personenkult geführt hat, welchen gewaltigen Schaden die Vergewaltigung der Prinzipien der kollektiven Leitung in der Partei und die Konzentration einer unermesslichen und unumschränkten Macht in den Händen einer Person angerichtet hat«. Im Zentrum der Rede standen Verhaftung, Folter und Ermordung führender Kommunisten sowie die Zwangsdeportationen der nordkaukasischen Völker nach Mittelasien. Die neue Führung hatte bis 1955 die Hälfte der zwei Millionen Lagerhäftlinge und ein Drittel der fast drei Millionen Verbannten entlassen. Schwer nachzuvollziehen für die meisten Zuhörer war, dass der »geniale Feldherr« nun auch für die Katastrophe der Anfangsperiode des Krieges verantwortlich gemacht wurde.
Trotz versuchter Geheimhaltung geriet der Inhalt von Chruschtschows Bericht an die internationale Öffentlichkeit, vor allem, nachdem im Juni 1953 die »New York Times« und »Le Monde« darüber berichteten. Er löste politisches Erdbeben, Unruhen und Aufstände aus, so schon im März des Jahres in Stalins Heimat Georgien, im Sommer und Herbst sodann in Polen und Ungarn. Es kam zum Zerwürfnis innerhalb der kommunistischen Bewegung, insbesondere mit Maos China. Ein Putschversuch alter Stalinisten aus der Führungsspitze gegen den »Nestbeschmutzer« und »Revisionisten« Chruschtschow auf dem ZK-Plenum 1957 scheiterte. Der XXII. Parteitag 1961 beschloss schließlich auch die Verbannung der sterblichen Überreste Stalins aus dem Mausoleum an der Kremlmauer. Drei Jahre darauf wurde jedoch der Entstalinisierer selbst entmachtet, in Rente geschickt und zur Unperson erklärt.
Ein Manko seiner Abrechnung mit Stalin war, Massenverbrechen und Willkür ausschließlich aus dessen Charakter zu erklären. Die fatale Rückkehr unter Stalin zu einer kriegskommunistischen Gesellschaftsstruktur, praktiziert 1918 bis 1920, wurde nicht problematisiert. Der Bruch mit Lenins Neuer Ökonomischer Politik (NÖP), vor dem Nikolai Bucharin warnte und der die produktiven bäuerlichen Einzelwirtschaften vernichtete, die forcierte Kollektivierung und Industrialisierung, die Hungersnot und Vertreibung von Millionen Bauern wurden nicht angesprochen. Derart war ein reformierter Sozialismus nicht möglich. Insofern war Chruschtschow wie später Michail Gorbatschow nur Arzt am Krankenbett eines unheilbaren Systems.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.