Zum Altwerden fehlt ihm die Zeit
Der Stuttgarter Agrarprofessor und kritische Kommunist Theodor Bergmann begeht heute seinen 100. Geburtstag
Er ist sich »Im Jahrhundert der Katastrophen« (so der Titel seiner wieder aufgelegten Autobiografie) stets treu geblieben. Exemplarisch verkörpert er alle Brüche jener Epoche zwischen Revolution und Konterrevolution.
Theodor Bergmann wurde als siebentes von acht Kindern des Reformrabbiners und Leiters einer Jüdischen Volksschule, Julius Jehuda Bergmann, und dessen Frau Hedwig am 7. März 1916 in Berlin geboren. Unter dem Einfluss zweier älterer Brüder trat der Elfjährige dem Jungspartakusbund bei und schloss sich zwei Jahre darauf der soeben gegründeten Jugendorganisation der KPD-Opposition (KPO) an. Sein politisches Engagement zeitigte früh erste Folgen: 1929 wurde der junge Rebell, der mit Freunden einen Schülerstreik organisiert hatte, des Mommsen-Gymnasiums verwiesen. Er wechselte daraufhin in das Köllnische Gymnasium, eine progressive Aufbauschule. »Hier mussten wir nicht die Daten von Dynastien und Kriegen pauken, unsere Lehrer berichteten uns von großen Künstlern und Wissenschaftlern«, erinnert sich der Veteran. Zu seiner politischen Bildung trug damals auch seine freiwillige Arbeit in der Redaktion der KPO-Zeitung »Arbeiterpolitik« bei, wo er Heinrich Brandler und August Thalheimer kennenlernte.
Der Machtantritt des Hitlerfaschismus markierte eine tiefe Zäsur auch im Leben des jungen Theo Bergmann. Am 2. März 1933 legte er noch das Abitur ab, fünf Tage später, an seinem 17. Geburtstag, floh er das juden- und kommunistenfeindliche Deutschland. »Ich wusste nicht, was mich erwartete. Ich kannte Palästina nur aus der Bibel und von den Erzählungen meines Vaters.« Theo Bergmann arbeitete in einem Kibbuz. Angesichts des heraufziehenden zweiten arabisch-jüdischen Bürgerkrieges verließ er 1936 das »Gelobte Land«. Er wollte in Europa seinen, wenn auch noch so bescheidenen Beitrag zu Hitlers Sturz leisten.
In der Tschechoslowakei, in Tetschen-Liebward, nahm er an der Landwirtschaftlichen Fakultät der Deutschen Technischen Hochschule ein Studium der Agrarwissenschaften auf - als Werkstudent, nebenbei arbeitete er in der Landwirtschaft - und knüpfte Kontakte zu den in tiefster Illegalität in Deutschland arbeitenden KPO-Genossen. Bevor die Wehrmacht in Tschechien einmarschierte, gelang ihm die Flucht über Danzig und Dänemark nach Schweden. An eine Fortsetzung seines Studiums dort war allerdings nicht zu denken.
Theo Bergmann verdingte sich auf einem Bauernhof als Hilfsarbeiter. Sein Bruder Alfred, der in die Schweiz emigriert war und dort als Arzt arbeitete, wurde von den Behörden des angeblich neutralen Landes 1940 an Hitlerdeutschland ausgeliefert und von den Nazis sofort ermordet. Theo Bergmann gab derweil in Schweden mit seinem Bruder Josef die hektographierte Zeitung »KPO-Briefe«, später »Revolutionäre/Politische Briefe« genannt, heraus. Zudem arbeitete er in der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter mit.
1946 kehrte er nach Deutschland zurück - mit einem Schiff, an dessen Bord nicht nur deutsche Antifaschisten, sondern auch ranghohe Nazis waren: »Zwei Deutschländer auf einem Kahn«, sagt Theo Bergmann. In die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) wollte er nicht gehen, da er keine Illusionen über den Stalinismus hatte. Tatsächlich erging ein sowjetischer Haftbefehl gegen ihn, was ihn jedoch nicht von illegalen Reisen und Treffs in den Osten abhalten konnte, im Gepäck stets die in der SBZ verbotenen Schriften Thalheimers und Brandlers, die noch im kubanischen Exil weilten und mit denen Theo Bergmann in Korrespondenz stand.
Nachdem er 1947 sein durch den Krieg unterbrochenes Studium der Agrarwissenschaften in Bonn abgeschlossen hatte, musste er zunächst zeitweise als Metallarbeiter sein Geld verdienen. Vor allem seine Frau Gretel, die wie er vor 1933 der KPO angehört hatte, sorgte in den ersten Nachkriegsjahren als Sekretärin für ihr gemeinsames bescheidenes finanzielles Auskommen. Theo Bergmann arbeitete damals mit seinem Bruder Josef auch als unbezahlter Redakteur der Zeitung »Arbeiterpolitik«, die politisch-publizistische Plattform kritischer Kommunisten.
1955 erwarb Bergmann an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim den Doktorgrad mit einer Dissertation über »Wandlungen der landwirtschaftlichen Betriebsstruktur in Schweden«. Die folgenden Jahre arbeitete er bei der Landwirtschaftskammer in Hannover, bis er 1965 endlich eine Lehr- und Forschungstätigkeit in Hohenheim erhielt, von der konservativen Professorenschaft wegen seiner linken Gesinnung zögerlich akzeptiert. 1968 erlangte er die Habilitation, nahm drei Jahre darauf eine Gastprofessur im australischen Armidale (New South Wales) an und wurde anschließend Professor für International vergleichende Agrarpolitik an der Universität Stuttgart-Hohenheim. Er war einer der wenigen Professoren, die den vom Radikalenerlass betroffenen Studenten beistanden, unter denen auch Winfried Kretschmann war, heute Ministerpräsident von Baden-Württemberg, damals KBW-Mitglied. Bis 1981 lehrte Bergmann in Hohenheim sowie zeitweise an der Universität Göttingen. Nunmehr wandte er sich auch verstärkt der Geschichte der Arbeiterbewegung zu, vor allem der Geschichte der KPO. 1987 erschien sein Hauptwerk »Gegen den Strom. Die Geschichte der Kommunistischen Partei-Opposition«.
Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik stand Theodor Bergmann seinen ostdeutschen abgewickelten Kollegen bei. Bereit 1990 trat er der PDS bei, wurde deren erster Vorsitzender in Baden-Württemberg und kandidierte - wenn auch ohne Aussicht auf Erfolg - für den ersten gesamtdeutschen Bundestag.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten erschienen aus seiner Feder etliche wichtige Artikel und Bücher, vor allem zur Geschichte der Linken. Auch sein Engagement bei der Ausrichtung internationaler Konferenzen über Bucharin, Trotzki, Lenin, Engels, die Russische Revolution und Rosa Luxemburg nötigen Respekt ab. »Natürlich steht der Sozialismus bei uns nicht auf der Tagesordnung, aber dass es mit dem Kapitalismus so nicht weitergehen kann, ist auch klar«, sagt Theo Bergmann.
Nun also überschreitet er die Schwelle zu seinem zweiten Lebensjahrhundert. Nach wie vor ist er unermüdlich unterwegs, bewundernswert agil. Seine Erklärung: »Zum Altwerden fehlt mit die Zeit.«
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