Für die Aktionäre gibt es Kultur als Dividende
Schaubühne Lindenfels ist Theater, Kino und Konzertsaal - gleichzeitig gehört sie 1198 Aktieninhabern
Evamaria Schaller ist Möbelrestauratorin in Leipzig und besitzt die Schaubühne Lindenfels im Stadtteil Plagwitz, genauer gesagt, einen Teil davon. Sie hat zwei Anteile gekauft, jeder im Wert von 24 Euro, zum einen, weil ihr die Kunstaktie, entworfen von Christoph Ruckhäberle, einem Maler der sogenannten neuen Leipziger Schule, gefiel, zum anderen, weil die 28-Jährige zum Erhalt des Kulturhauses beitragen wollte.
Genau das ist die Idee, die hinter der gemeinnützigen Aktiengesellschaft Schaubühne Lindenfels steht. Und die Idee funktioniert. Schon 1198 Personen und Firmen haben etwa 4700 Aktien gekauft, jede im Wert von 24 Euro. Das sind rund 110 000 Euro: »Eine Summe, mit der wir für das Haus schon etwas anfangen können«, sagt René Reinhardt, der Leiter der Schaubühne, die Theater, Kino, Festivalhaus und Café in einem ist.
Das Gebäude wurde 1876 als Gesellschaftshalle für Tanzveranstaltungen erbaut. Später kamen eine »Concertgarten-Anlage« mit Laubengängen und der heutige Westflügel hinzu. »Theatralische Veranstaltungen« fanden hier statt, ab 1906 wurden auch Filme gezeigt. Im Laufe der Jahre war dann alles dabei; Zwangsversteigerungen, Fremdnutzung, seit 1987 Leerstand, Insolvenz. Die Wiederbelebung durch das Team der Schaubühne Lindenfels erfolgte seit 1993.
Das heutige Konstrukt ist ungewohnt für eine kulturelle Einrichtung und entstand, als der damalige Vermieter des Hauses Insolvenz anmeldete. Die Gefahr einer Zwangsversteigerung stand im Raum. Was nun? Selber kaufen? 360 000 Euro wollte der Insolvenzverwalter haben. Reinhardt und seine Mitstreiter hofften auf ein Engagement der Stadt Leipzig. Die Stadt Leipzig konnte oder wollte aber nicht noch eine Kulturimmobilie erwerben. So gründeten Reinhardt und drei Mitstreiter die gemeinnützige Aktiengesellschaft. Diese Gründungsaktionäre verkaufen ihre Anteile an das Publikum weiter.
»Ein Modell mit Charme, eine Publikumsgesellschaft besonderer Art«, wie Reinhardt sagt. Für ihn spricht es die Sprache des aktuellen Wirtschaftssystems, gleichzeitig setzt es das Gemeinwohl nach vorn, indem kein Gewinn erwirtschaftet wird. Die Dividenden heißen Kultur, Unabhängigkeit und Gemeinsinn. Für letztlich 200 000 (geborgte) Euro kauften sie das Gebäude. Der laufende Betrieb wird über Fördermittel der Stadt Leipzig und Eintrittsgelder finanziert.
Seitdem läuft es gut im interdisziplinären Haus in der Karl-Heine-Straße: Theater, Tanz, Performance und Film, ergänzt durch Musik, Literatur, neue Medien und bildende Kunst. Beim Kino legt man besonderen Wert auf künstlerisch anspruchsvolle Filme. Das verpachtete Café im Haus ist beliebt im Stadtviertel, zu dem die Schaubühne als Ballhaus und Kino schon zu DDR-Zeiten gehörte. Im Café können die Besucher sitzen und das Gesehene und Gehörte diskutieren. Gerade wird die Schaubühne mit Mitteln aus der EU, des Freistaates Sachsen und der Stadt Leipzig behutsam weiter saniert. René Reinhardt: »422 000 Euro Bauvolumen. Für uns ist das ein Riesenschritt.« Die 62 000 Euro Eigenmittel, die die gemeinnützige Aktiengesellschaft beitragen musste, kamen von den Mitaktionären. Viele kaufen zwei (Kunst)-Aktien, eine für sich, eine zum Verschenken.
Da die Schaubühne Lindenfels ein Kulturhaus ist, gibt sie Kunstaktien heraus. Wert und Stückzahl variieren. René Reinhardt: »Inzwischen gibt es die sechste Edition.« Mancher sammelt die Aktien, denn sie haben auch einen Wert als Kunstobjekt.
Alles richtig gemacht, könnte man im Nachhinein sagen. Mittlerweile ist aus der tristen Karl-Heine-Straße eine Boommeile geworden. Schon droht Gentrifizierung. Frage an René Reinhardt: »Profitieren Sie von der Entwicklung im Stadtteil der letzten Jahre?« Es zeugt vom Selbstbewusstsein der Macher der Schaubühne, dass er das genau andersherum sieht: »Mit Projekten wie dem Jahrtausendfeld oder einem Kunst- und Straßenmarkt haben wir die Belebung angeschoben und bewusst in Richtung Kultur gelenkt.«
Beim Jahrtausendfeld pflanzten sie vor 16 Jahren mitten im leeren Stadtteil, in dem viele Fabrikgebäude abgerissen worden waren, auf einer fast 29 000 Quadratmeter großen Brachfläche Getreide - ein Feld in der Großstadt. Symbolträchtig. Von 1999 bis 2001 wurde auf der Fläche traditionell mit Pferd und Pflug Roggen angebaut. Reinhardt: »Wir haben uns immer wieder nach draußen bewegt.«
Plagwitz war bis 1990 industriell geprägt. Sollte es wieder in diese Richtung gehen? Auch heute noch sind nicht alle Industriebrachen wieder bebaut, aber es wird. Wohnungen entstehen, aber auch Firmengebäude, Einkaufsmärkte, Bio-Läden, kleine Werkstätten, Galerien. Die Entwicklung geht weiter, davon ist René Reinhardt überzeugt: »Ein nächstes Tun wird notwendig sein, eine nächste Vision, sie heißt Internationalisierung.«
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