»Der menschliche Geist ist etwas Wunderbares«
Professor Gelernter, wir haben am gleichen Tag Geburtstag ...
Ach, wirklich?
Und wissen Sie, wer noch am 5. März geboren wurde? Allerdings bereits 1871. Eine polnische Jüdin, Sozialdemokratin, Revolutionärin, Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands.
Rosa Luxemburg. Eine sehr interessante Frau. Aber wissen Sie auch, dass Stalin am 5. März starb?
David Hillel Gelernter, Jg. 1955, ist ein US-amerikanischer Informatiker und Yale-Professor. Er hatte zunächst Judaistik studiert; seine jüdischen Vorfahren stammen aus Osteuropa. Seine Bestimmung sollte jedoch die Entwicklung von Software-Programmen sein, darunter Java.
In seinem visionären Buch »Mirror Worlds« beschrieb er bereits 1991 die künftige Entwicklung des World Wide Web. Eine Klage gegen Apple auf Patentverletzung in Höhe von über 625 Millionen Dollar verlor er allerdings.
1993 wurde Gelernter durch eine Briefbombe des sogenannten Unabombers, eines militanten Technikhassers, schwer verletzt; seine rechte Hand und sein rechtes Auge blieben beschädigt. Die Erfahrung des knappen Überlebens beschrieb er in seinem Buch »Drawing Life: Surviving the Unabomber«. Gelernter schreibt regelmäßig Essays und Kolumnen für die »Washington Post«, die »Los Angeles Times« und die »New York Post«.
Sein neues Buch »Gezeiten des Geistes. Die Vermessung unseres Bewusstseins« (Ullstein, 392 S., geb., 22 €) befasst sich mit dem menschlichen Geist, mit dem sich keine noch so raffinierte künstliche Intelligenz messen kann. Es ist zugleich eine Hommage an menschliche Kreativität.
Natürlich. Zwei Jahre bevor Sie das Licht der Welt erblickten.
Der 5. März ist ein historisch befrachtetes Datum.
Sie wollten eigentlich Rabbiner werden?
Das stimmt, ich wäre gern Rabbi geworden, und ich beschäftige mich auch weiterhin sehr intensiv mit jüdischer Geschichte, Religion und Kultur. Zur Informatik stieß ich auch beeinflusst durch meinen Vater, der ein Pionier auf dem Gebiet war. Mich reizten an der Computertechnologie die schier unbegrenzten Möglichkeiten, deren Vielseitigkeit und Innovationsfähigkeit. Sie erleichtert nicht nur unser Leben, sie verschafft uns auch Macht.
Ist Ihnen Macht wichtig?
(Lacht) Nein. Die Macht, die Sie jetzt offenbar meinen, meine ich nicht. Ich habe keinerlei Bedürfnis, Macht über Menschen auszuüben. Faszinierend hingegen ist für mich die Macht des Menschen, jede beliebige Maschine zu erträumen, zu konstruieren, zu bedienen und zu verbessern. Ein talentierter Programmierer kann allein eine Software in seinem stillen Kämmerlein entwickeln, die so kompliziert ist wie eine Mondrakete, und sich diese sogar vom 3D-Drucker ausspucken lassen. Das beeindruckt und entsetzt. Deshalb lockt die Computertechnik auch stets Soziopathen an.
Aber Sie sind doch keiner, oder?!
(Lacht) Fragen Sie meine Frau Jane.
Die »New York Times« nannte Sie einen »Rockstar der Computertechnologie«. Sind Sie geschmeichelt oder eher verärgert?
Das war nett gemeint. Ich bin jedoch kein großer Fan von Rockmusik. Aber ich bin glücklich in meinem hauptberuflichen Metier; nebenbei male und schreibe ich. Menschen hören mir zu. Das ist nicht selbstverständlich auf wissenschaftlichem Terrain. Viele Wissenschaftler haben interessante, wichtige Dinge zu sagen, aber niemand hört ihnen zu. Insofern kann ich nicht klagen. Welcher Autor wünscht sich nicht, dass seine Bücher oder Aufsätze gelesen werden? Journalisten möchten auch, dass ihre Zeitung möglichst viele Leser hat.
Ihr Buch überraschte - weil ich von einem IT-Spezialisten nicht eine so verständliche, gar poetische Sprache und solch weiten philosophischen Horizont erwartet hätte.
Danke. Tatsächlich ist es unter Wissenschaftlern vielfach nicht populär, gilt sogar als obszön, über den Gegenstand ihrer Forschung nicht nur allgemeinverständlich, sondern auch schön zu schreiben. Mir aber ist es wichtig. Und es sollte allen Wissenschaftlern wichtig sein, im Interesse ihrer Wissenschaft. Sie sollten sich viel mehr von Schriftstellern und Dichtern abschauen.
In ihrem Buch erwähnen Sie deutsche Dichter und Philosophen. Sie zitieren Ludwig Wittgenstein: »Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.«
Er hat recht, unsere Mitmenschen wissen oft besser als wir selbst, wie wir uns fühlen, auch was wir denken. Mienenspiel und Körperhaltung sagen oft mehr als tausend Worte. Das unterscheidet uns von der Maschine. Sie ist kalt, regungslos, zeigt und verrät keine Gefühle.
Naja, nach manch langem Arbeitstag scheint mein Computer ebenso erschöpft wie ich, bockt und streikt.(Gelernter schmunzelt.) Das hat andere Ursachen. Da sollten Sie jemanden konsultieren.
Nachdem Wittgenstein 1921 sein »Tractatus logico-philosophicus« verfasst hatte - »Alle Philosophie ist Sprachkritik« -, war er überzeugt, alle philosophischen Probleme gelöst zu haben und wurde Volksschullehrer in einem kleinen Dorf. Haben Sie alle Probleme der Computerwissenschaft gelöst? Sie sind jetzt Dozent.
Wittgenstein war da noch ein sehr junger Mann. Er hat sich glücklicherweise wieder umentschieden. Nein, ich bin nicht in der glücklichen Lage, behaupten zu können, alle Computerprobleme gelöst zu haben. Es gibt stets neue Fragestellungen und Herausforderungen, von denen wir jetzt noch nichts ahnen.
Sie schreiben, als Kind beeindruckt gewesen zu sein, dass Wissenschaftler alles erklären könnten, etwa warum der Himmel blau ist. Deshalb drängte es Sie in die Wissenschaft?
Es ist eine kindliche Vorstellung, dass Wissenschaftler, oder generell Erwachsene, auf alles eine Antwort hätten. Dem ist nicht so. Zum Glück.
Zum Glück? Soll es stets ein letztes Geheimnis geben? Wollen Sie das?
Das ist doch reizvoll. Außerdem, ob wir wollen oder nicht, es werden stets Geheimnisse, Rätsel, uns augenblicklich unerklärliche Phänomene bleiben. Isaac Newton hat die Gravitationsgesetze entdeckt, aber seine »Principia Mathematica« bedeuteten nicht das Ende wissenschaftlichen Forschens. Man glaubte, Albert Einsteins Relativitätstheorie sei der Weisheit letzter Schluss, doch dann kam Werner Heisenberg mit seiner Quantentheorie. Oder, um ein anderes Gebiet anzusprechen: Als ich studierte, war Sigmund Freud in aller Munde: das Unbewusste, Kindheitstraumata, Egomanie, Phobien, Libido, Ödipuskomplex... Heute reden alle darüber, ohne Freud zu erwähnen. Er machte den Anfang, er war nicht das Ende.
Mich wundert, dass Sie als IT-Mann vor den Gefahren der Computer warnen. Wandelten Sie sich, wie es in der christlichen Mythologie heißt, vom Saulus zum Paulus?
Nein. Ich war und bin immer noch sehr interessiert, nach 30 Jahren in diesem Geschäft. Ich habe großen Respekt vor Computern. Sie sind faszinierend. Aber mehr noch die Menschen, die sie entwerfen und konstruieren, die Fantasie und Kreativität der Menschen. Der menschliche Geist ist etwas Wunderbares. Ich nutze übrigens Computer nicht mehr als nötig. Ich lese auch keine E-Books, sondern nur echte Bücher.
Sie sind kein Nerd?
Ich hoffe doch nicht. Aber da fragen Sie auch besser meine Frau. Ich stieg in die Branche ein, weil ich etwas nützliches machen und meine Familie ernähren wollte. Als junger Mann glaubte ich, dass die Computerbranche eine sinnvolle intellektuelle Aufgabe wäre. Ich bin heute allerdings nicht mehr so ganz davon überzeugt.
Und nicht so reich wie Bill Gates.
Ich bin überhaupt nicht reich. Ein Professor verdient bei uns für gewöhnlich nicht viel, gehört der Mittelschicht an. Und als ich mich mit der Computertechnologie zu befassen begann, lockte auch noch nicht das große Geld. Wir genossen unsere intellektuelle Freiheit, kommerzieller Gewinn kam uns gar nicht in den Sinn. Das ist heute anders. Heute denken viele, mit der Computertechnik lässt sich schnell und leicht viel Geld verdienen.
Anfangs diente die Computerentwicklung vor allem dem Militär. Waren auch Sie in militärische Projekte involviert?
Einige meiner Forschungen wurden aus militärischen Fonds gesponsert, von der DARPA, der Defense Advanced Research Projects Agency, dem Verteidigungsministerium oder der Air Force. Aber ich habe nicht direkt fürs Militär gearbeitet. Sicherlich nutzt es aber auch meine Entwicklungen. Die Informatik nahm ihren Anfang in den 1940er Jahren, u. a. in Großbritannien. Sie verhalf den Alliierten zum Sieg über Hitlerdeutschland.
Aber ohne den aufopferungsvollen Einsatz von Millionen Menschen in Europa und Asien wäre der Faschismus nicht niedergerungen worden.
Das ist richtig. Maschinen sind nur Instrumente.
Sie legen Wert auf den Unterschied zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz. Erstere ist eine Produkt von letzterer, scheint aber effektiver und verlässlicher als der menschliche Geist.
Das hängt davon ab, was Sie von der Maschine erwarten. Es ist wahr, das logische, rechnerische Vermögen eines Computers ist effektiver als das des Menschen. Computer sind belastbarer als Menschen. Und sie können unser Gedächtnis vervollständigen, komplementieren. Das ist es wohl auch, was die Philosophen so beeindruckt; Presslufthämmer interessieren sie hingegen nicht. Die Intellektuellen träumen davon, immer leistungsfähigere Computer zu bauen, mit einem enormen IQ, der unsere Vorstellungskraft sprengt. Aber wozu?
Um unser Leben zu erleichtern, uns von Arbeit zu entlasten, fröhlicher, glücklicher sein zu können.
Brauchen wir dazu unbedingt Computer? Wir könnten mal wieder ein gutes Buch in die Hand nehmen, die Gedichte von Horaz lesen oder in ein Museum gehen und die Bilder von Marc Chagall bewundern.
Ich gestehe, ich nutze meinen Laptop nur als intelligente Schreibmaschine. Ich weiß nicht, wie er tickt, was man so alles machen könnte, außer aus dem Internet Informationen abzurufen oder E-Mails zu verschicken.
Die meisten Menschen wissen nicht, wie eine Computer »tickt«. Deshalb sind sie auch so computergläubig. Ich warne davor, sich von Computern abhängig zu machen. Wir sollten uns mehr trauen und zutrauen.
Der schwedische Schriftsteller Henning Mankell warnte davor, die Möglichkeit, sich in Sekundenschnelle im Word Wide Web Informationen aus allen Wissensgebieten zu holen, mit wirklichem Wissen zu verwechseln.
Das meine ich auch. Man kann aus dem Internet viele Informationen abschöpfen, aber sich auch darin verlieren, viel Zeit verschwenden. Und Bewusstsein bildet sich darüber nicht.
Zurück zum Unterschied zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz. Eine Verschmelzung halten Sie nicht für möglich?
Manche meinen, Computer ähneln Gehirnen, der Geist funktioniert wie eine Software. Oder anders ausgedrückt: Der menschliche Geist ist die Software, die auf der Hardware Gehirn läuft. Diese Vergleiche sind nicht zufällig. Maschinen übernehmen längst nicht mehr nur körperliche Arbeit, sondern auch Aufgaben, für die der Mensch seinen Geist benötigt - der zudem mittlerweile sogar von der angewandten künstlichen Intelligenz geschlagen wird. Der von IBM-Forschern entwickelte Computer »Deep Blue« gewann 1997 die Schachweltmeisterschaft, und »Watson« gewann 2011 die Quizshow »Jeopardy«.
Der Computer lernte selbst zu denken, rational zu entscheiden.
Rationales oder vernünftiges Denken bedeutet nichts anderes als Rechnen. Und Rechnen bedeutet, dass Regeln befolgt werden. Wir planen unseren Tagesablauf in Takten, versuchen gedanklich, schrittweise nachzuvollziehen, wo wir unseren Schlüssel abgelegt haben. So ist es auch bei der künstlichen Intelligenz.
Aber ein Computer kann kein Bewusstsein entwickeln?
Theoretisch können 100 Milliarden Neuronen, auf die richtige Weise verknüpft und mit einem Körper verdrahtet, Bewusstsein liefern. Aber nicht 100 Milliarden zufällige Gebilde. 100 Milliarden Sandkörner etwa können kein Bewusstsein schaffen. Da wird man vergebens warten.
Mir gefällt die Idee, man könnte alles Wissen der Menschheit, von Platon über Newton und Einstein bis - zum Beispiel - David Gelernter auf einen Chip speichern und sich den ins Gehirn einpflanzen lassen. Man ist superschlau. Meinen Sie, dass könnte eines Tages möglich sein? Und würden Sie sich als erste Testperson für eine solche Implantation zur Verfügung stellen?
Ich denke, das ist möglich. Aber ich würde es hassen. Denn es löscht die Individualität aus, die Einzigartigkeit eines jeden Menschen, das, was uns von anderen unterscheidet, uns wunderbar, liebenswert und interessant für andere macht. Auch und gerade mit unseren Fehlern, Irrtümern und Schwächen. Wir sollten nicht wollen, alle Einsteins und Newtons zu sein. Ich habe zwei Kinder, und ich habe sie gemeinsam mit meiner Frau nach bestem Wissen und Gewissen erzogen; wir wollten nie aus ihnen kleine Newtons und Einsteins machen.
Sind die beiden Computerfreaks?
Sie sind mit der Computertechnik aufgewachsen, und sind bei Facebook, im Gegensatz zu mir. Und ein Sohn arbeitet momentan gerade in Berlin bei einer Softwarefirma.
Sie nutzen Facebook nicht, obwohl sie die sozialen Netzwerke mit erfunden haben?
Wir jubelten, als uns in New Haven der erste Livestream gelang. Das war ein großartiger Augenblick. Aber wenn ich sehe, wer heute mit wem über was auch alles kommuniziert, bin ich entsetzt, wird mir Angst und Bange um die stolze Gattung Mensch.
Das Social Network hat zweifellos unsere Kommunikationsmöglichkeiten ernorm erweitert und beschleunigt. In ihm steckt ein großes, wunderbares Potenzial. Wir lernen Leute kennen, die wir früher nie kennengelernt hätten. Wir können Freundschaften rund um den Globus schließen. Allerdings bleiben diese vielfach oberflächlich. Mich erschreckt, wie wenig Gespür man heute für Privatheit hat, für Intimität, Vertrautheit, was das Wesen einer Freundschaft ausmacht. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die sozialen Medien missbraucht werden, um andere Menschen zu beleidigen, zu diffamieren, zu denunzieren oder zu mobben.
Über Facebook und per Handy fand sich die Jugend des »Arabischen Frühlings« zusammen. Und auch Twitter scheint ein Forum der Beförderung von Demokratie, Transparenz und Kontrolle der Politik sowie Partizipation zu sein.
Soziale Netzwerke werden auch von Mördern und Terroristen genutzt. Technologie ist jenseits von Gut und Böse. Es kommt darauf an, in wessen Hand sie ist. Die erste industrielle Revolution im 19. Jahrhundert hat die Massenproduktion und vielen einen höheren Lebensstandard beschert, andere aber krank gemacht und in größte Armut gestürzt. Maschinenstürmerei war die Antwort darauf.
Konrad Zuse, der 1941 den ersten funktionstüchtigen Computer baute, entwickelte später die Vision eines Computersozialismus. Mittels der neuen Technologie wäre der Hunger aus der Welt zu treiben, Kriege und Unrecht zu beseitigen, wir würden in einer gerechten, humanen Gesellschaft leben. Auch Ihr Landsmann Jeremy Rifkin sieht mit der neuen Technologie eine bessere Gesellschaft heraufziehen. Was halten Sie davon?
Um den Hunger zu beseitigen, brauchen wir die Computer nicht. Das können wir gleich heute tun. Es gibt genug Nahrungsmittel in der Welt. Es ist nur eine Frage der Verteilung, des Transports. Das Internet kann keine materiellen Dinge bewegen, nur die Logistik bereitstellen. Es ist also einzig der Wille nötig, Hunger, Armut und all das Elend weltweit zu eliminieren. Computer haben keinen Willen, sie sind neutral, unterstützen uns lediglich in unseren guten oder schlechten Absichten.
Wie lesen Sie eigentlich Zeitungen?
Ich bevorzuge die papierne. Ich will das »Wall Street Journal« oder die »New Heaven Newspaper« gern in der Hand halten. Aber ich muss gestehen, dass ich manchmal, wenn ich mich schnell informieren möchte, ins Internet schaue, vor allem um zu sehen, was die internationale Presse schreibt.
Dank Internet können wir Museen weltweit besuchen, ohne einen Flug zu buchen. Das ist doch ein Segen.
Das ist in der Tat sehr komfortabel. Aber um die im Museum ausgestellten Dinge zu verstehen und überhaupt erst einmal das Bedürfnis zu einem Museumsspaziergang zu verspüren, ist ein gewisses Grundwissen nötig, Neugier, Interesse, Bewusstsein für das, was einem wichtig sein könnte. Wie schon gesagt, Bewusstsein vermittelt das Internet nicht. Es sagt mir, ob es draußen regnet, schneit oder die Sonne scheint. Meinen Kindern, die mit dem Internet groß geworden sind, habe ich oft erzählt, wie es in meiner Kindheit und Jugend war. Wir haben unser Wissen aus Büchern und Zeitungen gesaugt, darüber diskutiert und uns so, im direkten Austausch, eine Meinung gebildet. Das Internet macht vieles leichter, unterstützt aber auch die Faulheit des Menschen.
Ist Silicon Valley schuld daran, ergo ein Hort des Übels?
Ich habe viele Freunde dort, kluge, sympathische, smarte Menschen. Aber Silicon Valley ist nicht das aufregendste geistige Zentrum in der Welt.
Sondern?
Wenn ich wählen sollte, würde ich Paris oder Berlin nennen. Silicon Valley ist allerdings sehr wichtig für die US- und die Weltwirtschaft. Da ist geballte High-Tech, viel technologische, aber begrenzte kulturelle Weisheit.
Glauben Sie, dass die Dystopie, Maschinen versklaven die Menschen - wie schon in Science-Fiction-Filmen aus Hollywood prophezeit -, Wirklichkeit werden kann?
Ja, wenn die Menschen stupid, närrisch genug sind. Und das sind sie leider oft genug. Nichts ist unmöglich, wenn wir unvorsichtig sind. Viele US-Bürger denken darüber nicht nach, nehmen die Gefahren nicht ernst. Wenn die falschen Leute, unkundige Menschen, Entscheidungen treffen, können wir in ernste Schwierigkeiten geraten. Das gilt generell für alle Wissenschaften und deren Resultate. Wir müssen aufpassen, dass wir sie nicht einer Elite überlassen, die rein egoistische Zwecke verfolgt.
Mordende Maschinen sind schon lange in der Welt. Und die Drohnen sind mitunter auch unberechenbar, wie sogenannte Kollateralschäden in Afghanistan und Irak bewiesen.
Maschinen können das Leid verstärken, sie können aber auch Leben schützen und Leben verlängern, viele gute Sachen machen. Genannt sei hier nur die moderne Medizin. Wir müssen differenzieren. Unglücklicherweise kann man nicht in Computer gucken. Wenn Sie wissen wollen, wie ein Auto funktioniert, schauen Sie hinein. Die Software hat keine physische Existenz, sie ist schwer zu verstehen, zu kontrollieren oder zu reparieren.
Ich registriere mit Sorge, dass immer weniger junge Menschen in den USA Mathematik, Physik, Informatik studieren wollen. Sie studieren lieber Jura oder Medizin, denn als Anwalt oder Arzt kann man bei uns sehr viel Geld verdienen. Zudem scheint ihnen das Informatikstudium zu kompliziert. Im Gegensatz zu jungen Asiaten sind unsere Jugendlichen mehrheitlich bequem und uninteressiert.
Sie kritisieren auch das geringe Allgemeinwissen der Jugend und sogar der Studenten. Könnte dies nicht damit zusammenhängen, dass im Bildungswesen das Geld fehlt, das im Wahlkampf verprasst wird?
Es ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch der Prioritäten, die man setzt. Wir haben in den USA eine multikulturelle Gesellschaft. Das ist gut. Nicht so gut ist, dass in den Schulen abhängig von der ethnischen Zusammensetzung der Schüler unterrichtet wird. Ich will nicht sagen, dass die Geschichte der »Fivehundred Nations« nicht erzählt werden soll. Aber man sollte den Kindern, die einmal in unserem Land Verantwortung übernehmen wollen und sollen und eher nicht in die Verlegenheit kommen, Indonesien oder Kenia zu regieren, zunächst die europäische und amerikanische Geschichte vermitteln. Man sollte sie über die großen Stränge des Menschheitsfortschritts unterrichten, ehe man ihnen ihrer Ethnizität entsprechend indonesische oder keniatische Landeskunde bietet.
Trotz Ihrer Kritik am Bildungssystem der USA und am Desinteresse der Studentenschaft - Fakt ist: Die meisten Nobelpreise gehen heute an Ihre Landsleute. Das war vor 1933 noch nicht so.
Wir haben von der Vertreibung kluger Köpfe aus Deutschland durch die Nazis profitiert. Und wir haben in der Tat heute die weltweit besten Naturwissenschaftler, Technologen und Mediziner.
Wer ist Ihr Favorit für die Präsidentschaft nach Barack Obama?
Marco Rubio, Senator aus Florida, kubanischer Abstammung. Seine Eltern emigrierten vor dem Sturz Batistas in die USA. Rubio ist ein traditioneller Denker, gebildet, hat studiert, obwohl seine Eltern keine lukrativen Jobs, nicht viel Geld hatten.
Wie erklären Sie sich das Phänomen Donald Trump, politisierender Immobilienmillionär?
Trump ... (Gelernter zögert, denkt lange nach, ehe er fortfährt.) Trump wird nicht der nächste Präsident der USA sein. Der durchschnittliche Amerikaner hat mit ihm nichts gemeinsam. Der Durchschnittsamerikaner beleidigt nicht andere Menschen oder andere soziale Gruppen, sondern ist vielmehr umgänglich, auf Harmonie bedacht. Die Amerikaner wollen an der Spitze des Staates eine Person, ob Republikaner oder Demokrat, die sich um das Wohl des Gemeinwesens kümmert, ihre Sorgen und Probleme ernst nimmt und Abhilfe schafft. Dass so viele jetzt in den Vorwahlen für Trump stimmten, ist mit ihrem Ärger über die Politik zu erklären. Ein Ausdruck von Wut und Verzweiflung. Sie sind unzufrieden mit der Situation im eigenen Land und der Weltlage.
Das ist durchaus verständlich.
Als der Kalte Krieg vorbei war, dachten die Amerikaner: Jetzt wird alles besser. Kein Wettrüsten mehr mit den Russen, was Milliarden Dollar verschlang. Wir müssen jetzt nicht mehr für die Sicherheit unserer Verbündeten in der Welt und für die Sicherheit des Welthandels sorgen. Wir können unsere Infrastruktur ausbauen und werden alle mehr Geld auf dem Konto haben. Unsere Steuergelder fließen nicht mehr in andere Länder, um dortige Regierungschefs zu stützen etc.
Obamba hatte ihnen versprochen, dass die USA nicht mehr überall in der Welt präsent sein müssen. Und sie sehen sich ein weiteres Mal getäuscht. Sie fragen sich natürlich: Wieso müssen wir den Polen einen Raketenschirm liefern? Warum müssen wir Spione in Deutschland unterhalten? Egal, wer Präsident war, dem Durchschnittsamerikaner ist es nie besser ergangen, eher im Gegenteil, es ist schlimmer geworden.
Chinesische Produkte überschwemmen die Welt, Fabriken in den USA müssen schließen. Wir müssen Japan und Südkorea schützen. Vom Desaster im Mittleren Osten ganz zu schweigen. Der Durchschnittsamerikaner hat davon genug. Mit Trump verpasst er dem Establishment einen Denkzettel. Die Amerikaner mögen Trump nicht, er ist dislikeable, unliebbar. Er bemüht sich auch nicht, geliebt zu werden. Mit Trump sagen die Amerikaner den Politikern: »Die Zeit des Smiling und der Shaking Hands ist vorbei. Nehmt uns ernst!«.
Mich beeindruckt, wie Bernie Sanders bei den Demokraten die erfahrene Politikerin Hillary Clinton bedrängt.
Sanders ist das Gegenteil von Trump. Er ist ein charming guy, likeable. Er ist sympathisch, nett, intelligent, man mag ihn. Aber niemand glaubt, dass er gewählt wird. Er auch nicht. Hillary Clinton wird vom Durschnittsamerikaner nicht sonderlich gemocht. Bill Clinton war likeable, egal was er machte, man verzieh ihm. Sie ist hart, scheint unglücklich zu sein und dadurch fühlen sich auch die Leute unglücklich. Sanders ist glücklich, fröhlich. Und wenn er auftritt, hat man das Gefühl der Aufbruchsstimmung wie in den 1970er Jahren mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg und für Bürgerrechte.
Das erste Programm, das Sie entwickelt haben, hieß »Linda«. Stimmt es, dass Sie dieses nach einer Pornodarstellerin benannten?
(Gelernter blickt sich verlegen nach seiner Frau um.) Nein, nein. Ich hatte vor langer, wirklich langer Zeit eine Freundin, die Linda hieß. Die Geschichte mit Porno-Linda hat sich der Wissenschaftsredakteur der »New York Times« ausgedacht.
1993 wurden Sie Opfer des sogenannten Unabombers, Theodore Kaczynski, selbst Mathematiker, sandte über Jahre tödliche Briefbomben an IT-Spezialisten, ehe er vom FBI gefasst wurde. Drei seiner 16 Opfer starben. Sie lagen lange im Krankenhaus. Wie lebt es sich nach dem Überleben?
Es gibt Menschen, denen viel Schlimmeres widerfuhr. Ich denke da an Primo Levi und die anderen Holocaust-Überlebenden. Es ist mir passiert. Aber ich lebe. Und ich bin kein Mensch des Selbstmitleids.
Unser Redaktionssystem ist in Ihrem Java programmiert.
Das freut mich. Es arbeitet doch gut?
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