»Wir waren nur noch eine Nummer«
In der Folterschmiede der argentinischen Diktatur ESMA wurden Tausende Menschen gequält
Die Mechanikerschule der Marine in Buenos Aires liegt an der viel befahrenen Avenida Libertador. An freundlichen Tagen weht ein frischer Wind vom Ufer des nahen Río de la Plata herüber. Auf dem 17 Hektar großen Gelände an der nördlichen Stadtgrenze von Buenos Aires stehen 34 Gebäude. Gegenüber beginnt das Mittelklasseviertel Nuñez.
Am 24. März 1976 putschte das Militär in Argentinien. Als oberster Chef der Streitkräfte hatte Jorge Rafael Videla zusammen mit Admiral Emilio Massera und General Orlando Agosti die damalige Präsidentin Isabel Perón abgesetzt. Als De-facto-Präsident löste Videla die Parteien auf und schaffte das Parlament ab. Was folgte, war eine als »Prozess der nationalen Reorganisation« bezeichnete Herrschaft, unter der politische Gegner verfolgt und eine neoliberale Wirtschaftspolitik eingeführt wurde.
Nach dem Putsch richtete die Marine in der Escuela Superior de Mecánica de la Armada, kurz ESMA, ein Gefangenlager ein. Tausende wurden in die ESMA verschleppt. Für jeden Gefangenen wurde eine Akte angelegt, 5000 Akten wurden gefunden. Von den 5000 Gefangenen haben rund 300 überlebt. Enrique Fukman ist einer von ihnen. Fünfzehn Monate war er in der ESMA gefangen. »Die ESMA funktionierte wie ein Konzentrationslager. Gefangenschaft, Folter, Zwangsarbeit und Vernichtung. In der ESMA war alles vereint, das war einzigartig in Argentinien.«
Als das Militär putschte, war Enrique Fukman 19 Jahre alt und beim linksperonistischen Movimiento Montoneros aktiv. Er hatte gerade die Schule für Elektrotechnik abgeschlossen und zu arbeiten begonnen. »Schon tags zuvor hieß es in unserer Gruppe, wir sollten aufpassen, heute Nacht werde es einen Putsch geben.« Fukman blieb zu Hause, am anderen Morgen hörte er die Nachricht im Radio. »Ich ging zur Arbeit, um mit meinen Kollegen zu besprechen, was wir gegen den Putsch machen können. Viele waren ratlos.«
»Ab Mai 1976 verschwanden plötzlich Compañeros.« Im August wurde sein Haus durchsucht, die versteckte Druckmaschine der Metallgewerkschaft wurde gefunden. Fukman tauchte unter, versteckte sich bei Freunden. »Vor allem ging es darum, den Widerstand der Leute zu organisieren«, beschreibt er seine Zeit im Untergrund. Am 5. Februar 1977 wurde sein jüngerer Bruder im Stadtteil La Boca auf der Straße von der Polizei erschossen. »Er war 17, als sie versuchten, ihn gefangen zu nehmen.«
Als sie nicht mehr nach ihm suchten, begann er an der Universität Buenos Aires Ingenieurwissenschaften zu studieren, engagierte sich in den Studentengruppen. Am Abend des 18. Novembers 1978 besuchte er eine Compañera in ihrem Elternhaus. Als er nach Hause ging, wurde er entführt. Sie steckten ihn in den Kofferraum und fuhren zu einem Gebäude. Dort führten sie ihn in einen Keller, zogen ihn aus, fesselten ihn auf ein Metallbett und fingen an, ihn mit Elektroschocks, der Picana Eléctrica zu foltern. »Das war mein Willkommen in der ESMA«, sagt er. Warum hier? »Weil mich zufällig die Greiftruppe der Marine erwischte.«
Der Putsch in Argentinien war kein Einzelereignis. Er reihte sich in die Serie von Militärputschen ein: 1964 in Brasilien, 1971 in Bolivien, Juni 1973 in Uruguay, September 1973 in Chile. Und immer hatte die US-Regierung ihre Finger mit im Spiel. Für sie war der Rest des Kontinents ihr Hinterhof, der kontrolliert werden musste.
In der ESMA waren die Gefangenen im Offizierskasino eingesperrt. Im Keller waren Folterräume eingerichtet worden. »Der Durchgang dort ist sehr niedrig, unter den Querbalken musste man sich bücken, aber wir hatten ja die Kapuzen über dem Kopf und die Aufseher ließen uns mit den Köpfen gegen die Betonbalken laufen.« Fukman legt seine Hand zwischen Kopf und Balken, mit seinen 1,65 Meter blieb er davon verschont.
Er geht die Treppe hoch. Die Kanten der Stufen sind abgeschlagen. »Von unseren Eisenfesseln an den Füßen.« Eine Seitentür führt hinter das Gebäude. Hier konnten die Lastwagen vorfahren, um die mit Drogen betäubten Compañeros abzuholen, zum Verschwindenlassen. Bei den Todesflügen, den Vuelos de la Muerte, wurden Mitgefangene über dem Río de la Plata aus den Flugzeugen geworfen. »Wir gingen hinein und die wurden herausgebracht.« Er streicht über die Tür, schweigt.
Im Festsaal im Erdgeschoss wurde oft vom Offizierskorps gefeiert. Auch private Feste fanden statt. »Manchmal kamen sie mit ihren Gästen und zeigten ihnen die Gefangenen - wie Kriegstrophäen.« Im ersten und zweiten Stock waren die Wohn- und Schlafzimmer der Offiziere und des Lehrpersonals. 1977 wurden zwei Räume für schwangere Gefangene benutzt. Etwa 30 Babys wurden hier geboren. Die Frauen wurden ab dem siebten Schwangerschaftsmonat hierhergebracht, durften die Kapuze und Handschellen abnehmen. Die Geburten wurden vom medizinischen Personal der Marine vorgenommen, die Babys an Adoptiveltern weitergereicht.
Unter dem Dach lagen die Gefangenen wie aufgereiht nebeneinander. »Wer hier hereinkam, war nur noch eine Nummer.« Aus Enrique Fukman wurde 252. La Capucha, die Kapuze, wird der Dachspeicher genannt. Die Gefangenen trugen immer eine Kapuze über Kopf und Gesicht. Sechs Monate lag 252 hier oben, Füße Richtung Wand, Kapuze über Kopf und Gesicht. »Ständig lief das Radio der Aufseher, wir wussten immer, wie viel Uhr und welcher Tag es war.« Die Männer wurden geschlagen, die Frauen nicht. »Aber wenn sie von der Toilette zurückkamen, waren sie oftmals vergewaltigt worden.«
Der Schulalltag an der Mechanikerschule lief wie selbstverständlich neben den Gefangenen, den Gefolterten, den Ermordeten, den Verschwundenen weiter. Unter der anderen Dachseite war das Aquarium, la Pecera. Kleine Büros, abgetrennt durch Acrylglasscheiben. »Damit uns die Aufseher leichter überwachen konnten, wie Fische im Glas.« Hier werteten Gefangene die aktuellen Tageszeitungen und Zeitschriften aus, verfassten Zusammenfassungen der wichtigsten Nachrichten. Auch Fukman schrieb. »Ich wusste immer, was draußen passierte. Ich las die nationale Presse, ›Cambio16‹ aus Spanien, ›Newsweek‹, die ›Times‹.«
Am 18. Februar 1980 wurde er nach Hause gefahren. Warum an diesem Tag? Warum er überlebte? »Das weiß ich nicht, das wissen nur sie.« Aber eine Aufgabe der Diktatur war laut Fukman, Misstrauen zu erzeugen. Wenn jemand entführt wurde, dann muss er auch irgendetwas gemacht haben. Wenn jemand wieder auftauchte, dann muss er irgendwas getan haben, damit er wieder da war. Jeder wurde verdächtig, entweder als Krimineller oder als Kollaborateur.
Am 19. März 2004 war er zum ersten Mal wieder in der ESMA. Die in der Vereinigung der Ex-Verhafteten und Verschwundenen zusammengeschlossenen Überlebenden baten Präsident Nestór Kirchner um ein Treffen. Kirchner selbst hatte dafür die ESMA vorgeschlagen. »Unsere einzige Bedingung war, dass uns keine Marineangehörigen über den Weg laufen und keine Presse.« Mit Kirchner gingen sie den Weg zum Offizierscasino, stiegen hinunter in den Keller und hinauf in die Capucha. »Das war ein heftiger Tag, es war auch ein Treffen mit sich selbst.« Und es sei für ihn wie Geisteraustreiben gewesen.
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