Kolumbien: »Es braucht eine neue Operation Orión«

Max Yuri Gil Ramírez über die Suche nach Verschwundenen im größten Massengrab in Kolumbien

  • Interview: Tininiska Zanger Montoya
  • Lesedauer: 5 Min.
Blick auf Banner in Form menschlicher Silhouetten, die die Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens in »La Escombrera« darstellen.
Blick auf Banner in Form menschlicher Silhouetten, die die Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens in »La Escombrera« darstellen.

La Escombrera (auf Deutsch »der Schutthaufen«) in Medellín wird als das größte Massengrab Kolumbiens bezeichnet. Die Angehörigen klagen an, dass die Leichen von mehr als 400 gewaltsam Verschwundenen unter tonnenweise Schutt dort begraben liegen. Mitte 2024 begannen dort Ausgrabungen, aber am 1. April 2025 hat die Sondereinheit zur Suche verschwundener Personen (UBPD) vorerst die Suche eingestellt. Wie kam das?

Dies ist eine bedauerliche Folge der Kürzungen der internationalen Hilfe. Die US-Entwicklungsagentur USAID hatte Projekte zur Finanzierung der kolumbianischen Übergangsjustiz, darunter auch Mittel für die UBPD. Diese wurden gestrichen. Nun muss der kolumbianische Staat diese Kosten übernehmen, hat aber ernste Haushaltsprobleme. Es ist also ein sehr schwieriges Szenario für die UBPD.

Die Bauschuttdeponie liegt im marginalisierten Bezirk Comuna 13. Zwischen 1997 und 2003 wurde dieser zum Konfliktschauplatz, mit Militäroperationen der Streitkräfte in Zusammenarbeit mit paramilitärischen Gruppen, wie etwa die »Operación Orión«. Die Einstellung der Ausgrabungen ist ein harter Schlag für die Angehörigen, die nach 22 Jahren Grund zur Hoffnung verspürt haben ...

Genau. In den 22 Jahren seit dem Abschluss der Militäroperationen wurden Millionen Tonnen Bauschutt aus der ganzen Stadt auf der Deponie abgeladen. An einigen Stellen hat sich das Bodenprofil um bis zu 25 Meter angehoben. Die Angehörigen mussten all die Jahre zusehen, dass dieser Schutt genau dort abgeladen wurde, wo sie beklagen, dass sich ihre Angehörigen befinden. Im Dezember 2024 wurden die ersten drei Leichen gefunden, dann zwei weitere. Zwei wurden bereits identifiziert, es sind Zivilisten, die Mitte 2002 Opfer von Verschwindenlassen wurden. Wir dachten, dass es weitere Leichenfunde geben würde. Wir dachten sogar irgendwann, dass diese fünf Leichen zu einem größeren Massengrab gehörten. Leider war das nicht der Fall. Es ist schwierig, weil das Gebiet sehr groß und die Ausgrabung dort sehr komplex ist.

Interview

Der Soziologe Max Yuri Gil Ramírez ist Leiter des Instituts für Politische Studien der Universidad de Antioquia in Medellín. 2019 bis 2022 koordinierte er die Arbeit der kolumbianischen Wahrheitskommission in der Region Antioquia-Eje Cafetero.

Und das ist ja nur ein kleiner Ausschnitt der landesweiten Realität. Die UBPD geht von 121 000 Opfern des sogenannten Verschwindenlassens von Personen in Kolumbien im Rahmen des bewaffneten Konflikts aus.

Ja, das Ausmaß und die Komplexität des gewaltsamen Verschwindenlassens in diesem Land macht es zu einer sehr schwierigen Aufgabe. Die Verschwundenen der vergangenen 60 Jahre müssen gesucht werden, die meisten von ihnen in ländlichen Gegenden. Viele der Opfer sind unauffindbar. Sie wurden zerstückelt, in Flüsse geworfen, ihre Leichen verbrannt. Einige der Täter leben nicht mehr oder es fehlt jede Spur von ihnen. In der Escombrera ist die Situation etwas günstiger als in anderen Teilen des Landes. Wir suchen hier nach 400 Personen, die 2002 in einem uns bekannten Gebiet und Kontext Opfer dieser Verbrechen wurden. Und trotzdem ist der Erfolg bisher minimal. Auch die internationalen Sucherfahrungen sind nicht gerade günstig. Die Suche nach Verschwundenen ist eine sehr undankbare Aufgabe.

Welche Szenarien gibt es, um die Suche in La Escombrera weiterzuführen?

Es müsste eine Haushaltspriorität sein, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Nicht einmal in dieser Regierung, die ein wenig sensibler für das Thema ist als andere davor. Es ist nicht einfach, dass sie die Mittel dafür findet, denn es gibt eine sehr große soziale Schere, die sie auch angehen muss. Man könnte auch darüber nachdenken, ob die Gelder der internationalen Zusammenarbeit stärker diversifiziert werden könnten. Angesichts des globalen Wirtschaftsszenarios halte ich dies jedoch für unrealistisch. Ich denke, dass Europa die Prioritäten jetzt anders setzt. Kolumbien ist heute keine internationale Priorität. Wir sind ein Land, das den bewaffneten Konflikt noch nicht hinter sich gelassen hat, aber wir sind auch nicht mehr das Land des ewigen Bürgerkriegs. Schließlich ist Medellín im Gegensatz zu anderen Kommunen nicht arm. Die Stadt verfügt über Mittel, die sie nutzen könnte, aber auch nicht genügend, um die Lücke, die die internationale Finanzierung hinterlässt, erheblich zu füllen.

Dazu kommt der fehlende politische Wille des Bürgermeisters von Medellín, Federico Gutiérrez, für den weder die Umsetzung des Abkommens noch die Suche der Verschwundenen prioritär sind.

Genau. Sowohl Federico Gutiérrez als auch der Gouverneur von Antioquia, Julián Rendón, sind Feinde der nationalen Regierung. Außerdem gehören sie zu einem negationistischen und revisionistischen politischen Sektor, der mit dem Krieg in Verbindung steht: die rechte Partei Centro Democrático. Sie haben also kein politisches Interesse an der Suche.

Nachdem die ersten Leichen gefunden wurden, hat ein Radiomoderator angedeutet, die Mütter hätten selbst die Leichen ihrer Kinder dort verscharrt, um den Staat zu diffamieren. Anfang des Jahres gab es Auseinandersetzungen mit dem Bürgermeister wegen der Graffitis »Die Mütter hatten recht«, die sich auf La Escombrera bezogen. Wie steht es um diese symbolischen Kämpfe um Erinnerung?

Ich denke, dass Auseinandersetzungen um die Erinnerung typisch für alle Gesellschaften in oder nach Übergangsprozessen sind. Heute gibt es in Spanien die rechtsradikale Partei Vox, die den Franquismus rechtfertigt, in Deutschland und Italien gibt es ähnliche Parteien mit der AfD und der Fratelli d’Italia, in Chile rechtfertigen einige den Staatsstreich, es gibt den rechtslibertären Javier Milei in Argentinien. Auch in Medellín gibt es einen Streit um die Deutungshoheit: Was ist passiert und warum? Wer war verantwortlich, wer waren die Opfer? Keiner will als Täter dastehen.
Einerseits versuchen die Opfergruppen, die Erinnerung wachzuhalten, gerade mit dem Wandbild »die Mütter hatten recht«. Seit 22 Jahren prangern sie an, was in der Comuna 13 geschah. Und jetzt versuchen gewisse Gruppen mit ihren Narrativen, das Geschehene zu leugnen. Es ist eine Schande, die Opfer infrage zu stellen. Jetzt sagen einige, sie seien Teil der Guerilla-Milizen, Kriminelle und Drogenkonsumenten gewesen. Die Angehörigen werden delegitimiert und ihnen wird vorgeworfen, sie seien hinter einer finanziellen Entschädigung her. All diese Narrative rechtfertigen bestimmte Verbrechen und sollen die Täter aus der Verantwortung entlassen. Viele Menschen im Land sagen heute: »Medellín braucht eine neue Operation Orión«, ohne sich zu schämen.

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