»Jungle is not for human, Jungle is for animal«

Mit Bollywood Indisch lernen und auf England hoffen - oder auch nicht mehr

  • Refugee Support Calais
  • Lesedauer: 4 Min.
Wer in Restaurants im Jungle arbeitet, finanziert damit schon einen Teil seiner Überfahrt. Wer in den Restaurants essen geht, ist entweder Volunteer oder neu im Jungle - und hat noch Geld.

Dies war unser vorletzter Tag in Calais. Wir haben im Baumarkt elektronisches Equipment und Baumaterial besorgt, das in Jungle Books gerade dringend gebraucht wird. Sharif*, den wir jetzt einfach konsequent so nennen, auch wenn er offen mit seinem Namen umgeht, hat sich sehr gefreut und weitere Bedarfe genannt: Wörterbücher vom Englischen / Französischen in Pasto, Farsi und Arabisch. Denn Refugees aus Afghanistan, Iran, Syrien und Irak sind im Moment die größten Communities im Jungle. Nicht so gut kam die Nachricht an, dass die neuen WiFi-Router erst am Samstag geliefert werden, denn im Moment fällt das Internet ständig aus.

Als wir die Einkäufe in einer der Hütten verstaut hatten, war es bereits nach 8 Uhr pm. Viele Leute liefen über das Gelände in und um Jungle Books, grüßten Sharif, schauten in die Klassenräume, zogen weiter. Immer in der Abenddämmerung legt sich eine quirlige Unruhe über das Camp, denn viele BewohnerInnen machen sich nachts auf den Weg nach England. Wir zogen uns also mit Sharif für ein Interview in den Kleinbus zurück. Über eine halbe Stunde Audiomaterial hatten wir bereits in den letzten Tagen gesammelt, jedoch konnten wir bislang 'nur' long-term Volunteers interviewen. Deshalb haben wir nun besonders viele Fragen an Sharif. Er erzählt die Geschichte von Jungle Books, spricht über den Alltag im Camp und konkretisiert seine Erfahrungen mit staatlicher Repression. Als Dankeschön schenken wir dem Interviewten eine Club Mate und laden ihn zum Abendessen ein. Im Jungle. Afghanische Küche. Mit Rauchen. Es war lecker. Wir haben einmal alles bestellt und saßen über zwei Stunden in diesem Restaurant, in dem 50 weitere Personen trashige Bollywood-Filme schauten. Auf diesem Wege, berichtet Sharif, würden viele Afghanis während ihrer Zeit in dem französischen Camp sogar indisch lernen. Wir lachen.

Dann sprach er über die Flucht. Er ist Pharmazeut, studiert und hat für die USA gearbeitet. Als die Taliban ihn das zweite Mal arrestierten, floh er. Seine Mutter wollte es so. Als er in Deutschland ankam, erreichte ihn die Nachricht, dass Afghanistan bereits als sicherer Herkunftsstaat gilt. Somit musste er weiter. In Paris war er geschockt von der Teilnahmslosigkeit der Passanten, die sich nicht juckten, dass da ein junger Mann mit Anfang zwanzig auf der Straße schlief. Mehrmals versuchte er nach England zu kommen, jedesmal scheiterte der Versuch, einmal saß er im Knast. Kürzlich ist er aus Versehen im Kofferraum einer Unterstützerin eingeschlafen und auf der anderen Seite des Eurotunnels von britischen Beamten geweckt worden. Nun lässt er es. »Ich habe ja keine Familie da drüben«, sagt er. Wir haben den Eindruck, dass er mit dieser Entscheidung ein bisschen stressfreier lebt. Er hat mit einem Anwalt gesprochen, der im Jungle Rechtsberatung anbietet, und überlegt nun doch Asyl in Frankreich zu beantragen. Wie alt er ist? Hat er vergessen, seit er auf der Flucht ist. »Sucht euch einen Tag aus, an dem ich geboren bin.« Letzte Woche hat er sein Handy verloren. Darin war die Nummer seiner Mutter gespeichert, der einzige Kontakt, den er noch zu seiner Familie hatte.

Dann gab es schwarzen Tee und Chai. Als der Abspann des Films einsetzte, kam Bewegung unter die Gäste. Stimmengewirr. Einige Leute spielten Karten. Wir waren übrigens die Einzigen, die im Restaurant zu Abend aßen. Die anderen waren dort auch nicht wegen des Hungers, sondern um sich wach zu halten. Um es dann in der Nacht wieder zu probieren. Vor drei Tagen, also zwischen den Feiertagen, haben es neun Leute geschafft. Unsere Freude ist mehr als klammheimlich. Sharif schätzt, dass es im Jungle zwei Dutzend solcher Restaurants gibt, die bis nach Mitternacht geöffnet haben. Sie funktionieren unabhängig von den Hilfsstrukturen, das heißt, die Nahrungsmittel werden nicht aus den Spendentöpfen geliefert. Wer in den Restaurants arbeitet, finanziert damit schon einen Teil seiner Überfahrt. Wer in den Restaurants essen geht, ist entweder Volunteer oder neu im Jungle, und hat noch Geld. Alle anderen werden von spendenbasierten Kitchens wie Salam versorgt.

Wir zahlen und drängeln uns auf der dunklen Hauptstraße durch eine Menschenmenge. Gerade ist 'Markt'. Sharif gibt uns seine Botschaft mit: In seinen Augen ist der Jungle nicht für Menschen, sondern für Tiere.

Wir verabschieden uns. Schlaf gut und bis morgen. Und danke für die Einladung. - Ach so, übrigens, da hinten gibt’s eine Diskothek.

*Name geändert

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