»One Chance!«
CS-Granaten werden ins Camp gefeuert - eine Runde Niesen, dann kommt das Essen
Wir waren kaum zwei Stunden da, hatten noch ein paar Besorgungen gemacht und ein Interview mit der Jungle Books Supporterin Mary geführt, da ziehen die ersten Tränengasschwaden über die Bibliothek. Locker 300 Menschen sind auf den Beinen. Sie versuchen an der nahe gelegenen Autobahn auf die Lkws aufzuspringen, um so heimlich die Überfahrt zu schaffen. Die Polizei verhindert das größtenteils, indem sie CS-Gasgranaten willkürlich und bis weit hinein ins Camp feuert. Die glühenden Geschosse setzen dabei regelmäßig die Hütten der Bewohner in Brand und zerstören so die wenigen Dinge, die sie besitzen.
Das Geschehen wirkt aber beinahe routiniert und ist für uns offenbar aufregender als für die Bewohner, die sich den Kampf gegen Hundertschaften der CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité, deutsch: Sicherheitskompanien der Republik; vergleichbar mit der deutschen Bereitschaftspolizei, d.Red.) vor allem während der Räumung in der ersten Märzhälfte täglich geliefert hatten. Recht unbeeindruckt wird etwa der Sprachunterricht im Jungle Books fortgesetzt, während keine 25 Meter entfernt Granaten explodieren.
Hustend und mit tränenden Augen stolpern wir in Begleitung von Sharif in das afghanische Restaurant. Das Personal kümmert sich sofort um uns, indem sie Zigarettenqualm direkt auf die geöffneten Augen pusten. Ein einfacher und uns noch ganz unbekannter Trick, der auf erstaunliche Weise gegen die Auswirkungen des Reizgases hilft. Am Tisch gegenüber sitzt Karim* und isst einen Teller Bohnen. Er ist acht Jahre alt und erzählt, dass er sich ganz vorn am Campeingang – dort wo es am meisten kracht und wo die Cops auch immer wieder mit Tränengasgranaten in die Menge schießen – vor einen Polizisten stellte und rief »One chance! One chance!«. Daraufhin gab ihm der Polizist ein Handzeichen, er solle den Mund halten und drohte, ihn in ein Internierungslager zu bringen. Dann wendet sich Karim ab, der Bollywood-Trash auf dem Fernsehbildschirm ist spannender als unser Gespräch. Sein Vater klopft ihm auf die Schulter. Sharif ruft lachend »strong boy«. Draußen kracht es wieder. Menschen stolpern keuchend ins Restaurant und nehmen neben uns auf der langen Bank Platz. Sie bringen eine Wolke Gas mit zur Tür rein. Eine Runde Niesen, dann kommt das Essen.
Trotz der massiven Repressionen haben es heute wieder einige auf oder in einen Lkw geschafft. Wir wünschen ihnen nur das Beste und viel Erfolg!
*Name geändert
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.