Lieber Bernie: Lass uns eine Bewegung werden!
Offener Brief linker Intellektueller an den Sozialisten Sanders
wir gehören zu den Millionen von Spenderinnen und Spendern und Hunderttausenden von Aktivistinnen und Aktivisten, die Deine Kampagne entgegen aller prognostizierten »Unmöglichkeit auf Erfolg« vorangetrieben haben. Was bleibt uns zu sagen? Wir lieben Dich. Einigen von uns ergeht es schon jahrelang so, seitdem wir Deinen langen Weg als Außenseiter-Bürgermeister von Burlington (Vermont) bis hin zum einzigen Sozialisten im US-Senat beobachten. Andere wiederum sind erst seit Kurzem von Dir und Deiner Präsidentschaftskampagne aus heiligem Himmel beeindruckt; eine Kampagne, die Leben und Hoffnung – und einen kleinen Vogel – in die leb- und hoffnungslose amerikanische politische Landschaft gebracht hat. Dies ist ein glücklicher Moment unserer Beziehung zu Dir. Nach und nach kommen wir entgegen der liberalen Maschinerie dem politischen Gezeitenwechsel in den Vorwahlen näher, getragen von einer Welle an popularer Unterstützung.
Die Dinge stehen gut im Moment, aber wir möchten über die Zukunft sprechen. Wir möchten etwas Langfristiges, wir möchten gemeinsam etwas schaffen, was bleibt. Wir wollen darüber reden, wie wir diesen Moment zu einer Bewegung entfachen können.
Für viele von uns ist das eine sehr belastete Thematik. Wir wurden schon einmal verletzt und betrogen. Die meisten von uns haben daher ein tiefes und gesundes Misstrauen zur »großen« Politik der Präsidentschaftswahlen entwickelt und uns eher auf Organisierung am Arbeitsplatz oder in der Community konzentriert. Dafür gibt es einen Grund: Einige von uns legten all ihre Leidenschaft in die Kampagnen der »Regenbogen-Koalition« (ein Anfang der Nuller Jahre zuerst in Massachusetts gegründetes, dann bundesweit agierendes, pluralistisches Bündnis mit Schwerpunkt auf Sozial- und Umweltpolitik und dem Ziel, die faktische Zwei-Parteien-Herrschaft in den USA herauszufordern, Anm. d. Ü.) oder von Ralph Nader (fünfmaliger Präsidentschaftskandidat mit Schwerpunkt Verbraucher- und Umweltschutz, zuerst für die Amerikanischen Grünen, dann als Einzelperson, Anm. d. Ü.) und anderen Politikerinnen und Politiker der amerikanischen Grünen. Viele von uns taten alles daran, um Obama mittels der bis dahin größten basisdemokratischen Bewegung in der Geschichte der US-Präsidentschaftswahlen ins Weiße Haus zu wählen. Egal, ob die jeweiligen Kandidaten gewonnen oder verloren haben – all diese Kampagnen hinterließen letztendlich nicht mehr als gebrochene Herzen und, im letzten und bemerkenswertesten Fall, gebrochene Versprechen. Auf einer tieferen Ebene spüren wir, dass die von uns erstrebten Veränderungen nicht einfach an der Urne gewählt werden können – wir wollen echte, partizipative Demokratie in allen Gesellschaftsbereichen ermöglichen. Allerdings empfinden viele von uns Partizipation in der Politikform der Wahlen als ein Verhältnis von Missbrauch und Ausnutzen.
Wir wollen, dass es diesmal anders wird. Lass uns zusammen etwas Echtes kreieren. Lass uns nicht nur eine politische Revolution, sondern auch eine soziale und ökonomische Revolution aufbauen, indem wir nicht nur eine Kampagne für die US-Präsidentschaft, sondern eine bleibende Bewegung erzeugen.
Wir haben uns vier Schritte überlegt, über die wir unsere Beziehung zueinander auf die nächste Stufe hieven könnten:
1. Eigene Listen aufbauen. Der Ärger mit dem Democratic National Committee und NGP-VAN (privates amerikanisches Unternehmen mit Spezialisierung auf Technologie für progressive Kampagnen und Organisationen, Anm. d. Ü.) hat gezeigt, dass wir der Maschinerie der Demokratischen Partei unsere Infrastruktur der Organisierung nicht anvertrauen können. Wir brauchen eigene Mitgliederlisten, die sie nicht kontrollieren können.
2. Mitglieder und Organizer werden. Veränderung gibt es nicht durch eine Wahl einer Politikerin bzw. eines Politikers. Wir brauchen eine soziale Bewegung. Soziale Bewegungen hingegen entstehen nicht durch einen Politiker, der auf einer Bühne gegen das Establishment wettert – sondern durch Millionen Einzelpersonen, die sich erheben und gemeinsam kämpfen. Erschaffe eine Möglichkeit der Mitgliedschaft in deine Kampagne, was mehr Verantwortung und nachhaltigeres Engagement fördern würde. Wenn Deine fünf Millionen Spenderinnen und Spender Mitglieder würden, wären wir größer als jede Gewerkschaft in den USA und auf einer Stufe mit der »National Rifle Association« (NRA), die wesentlich effektiver die Pistole an die Brust aller US-Regierung setzt als jegliche politische Organisation in der Geschichte des Landes. Wenn wir zudem dafür sorgen könnten, dass Mitglieder zu Organizern ausgebildet werden, spricht nichts dagegen, die Größe Deiner Basis zu verdoppeln oder zu verdreifachen – groß genug also, um die politische Revolution dauerhaft und allgegenwärtig zu machen und darüber hinaus als ökonomische und soziale Revolution an den Arbeitsplatz und in die Communities zu tragen.
3. Demokratie praktizieren. Was Deine Kampagne auszeichnet, ist das Versprechen von Demokratie. Lass uns dieses Versprechen schon innerhalb der Kampagne umsetzen. Gestatte uns, nicht nur Spenderinnen und Spender, Wählerinnen und Wähler oder Konsumentinnen und Konsumenten von Bernie zu werden, sondern Produzentinnen und Produzenten dieser politischen Revolution. Formalisiere einen demokratischen Prozess für Mitglieder um über Kampagnenversprechen zu entscheiden und um Aktionen zu planen. So kannst Du Hillary und ihre neuesten Versuche, sich als »intersektionale« Kandidatin zu inszenieren, überholen: Indem Du offene Einladungen an Initiativen aus Arbeitskampf, Antirassismus, Umwelt und Klima, LGBTQ und Friedensbewegung rausschickst und sie zu vollwertigen Bündnispartnern deiner Kampagne machst, und nicht nur über sie oder in ihrem Namen sprichst. So versicherst Du uns, die schon in der Vergangenheit von Politikerinnen und Politikern betrogen wurden, dass dies eine Beziehung auf Augenhöhe ist und Du uns nicht vergisst, wenn Du ins Amt gewählt worden bist. Außerdem wird es Dir dabei helfen, die politische Revolution zu einer Revolution des Alltags zumachen – also zu etwas, wo Demokratie zu etwas wird, was wir jeden Tag in unserer Nachbarschaft, unserem Arbeitsplatz und unserer Community praktizierten, und nicht bloß alle paar Jahre an der Wahlurne.
4. Den Kampf lokal verankern. Du bist ein Kämpfer. Das ist es, was wir an Dir lieben. Lass uns vereinbaren, zusammen den Kampf anzutreten, indem wir globale Veränderungen durch lokale Organisierung ermöglichen. Egal, ob wir es schaffen, Dich zum Präsidenten zu wählen oder nicht, der Kampf hat erst angefangen. Wenn Du im Amt bist, brauchst Du einen massenhaften basisdemokratischen Apparat, um die Republikanerinnen und Republikaner und »moderate« Vertreterinnen und Vertreter der Demokraten in Bezug auf die politische Revolution unter Druck zu setzen und sie zu einer ökonomischen und sozialen Revolution zu transformieren. Wenn die politische Maschinerie des Establishments die Wahl abgreift, setzen wir uns zusammen und konfrontieren die Regierung direkt mit unseren Forderungen oder wählen dafür andere sozialistische Repräsentanten in den erweiterten Kreis der Regierung. Nochmals: Egal, wer bei den Wahlen gewinnt, für echte Veränderung müssen wir uns am Arbeitsplatz und in den Communities organisieren – für eine ökonomische, soziale und politische Revolution, angestoßen durch lokales Engagement. Lass uns also die Kampagnenbüros (zumindest so viele wie möglich) auch nach der Wahl geöffnet halten und sie zum Drehkreuz für Organisierung machen. Wenn wir in der Lage sind, eine Organisierung aufzubauen, die über den Wahlzyklus hinaus sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Community und in der politischen Sphäre aktiv bleiben kann, können wir nicht verlieren.
Was sagst Du, Bernie? Können wir das schaffen? Das letzte Jahr war magisch. Lass uns die Magie am Leben halten, lass uns unserer Kampagne eine Zukunft geben, an die wir glauben können.
In Liebe,
Deine Unterstützerinnen und Unterstützer
*Aus dem Englischen übersetzt von Hamid Mohseni und John Malamatinas.
Anmerkung der Übersetzer:
Der Autor des Briefs, Erik Forman, ist Lehrer und lebt in New York. Er ist aktiver Gewerkschafter, u.a. bei der Lehrergewerkschaft »United Federation of Teachers« und vor kurzem der Demokratischen Partei beigetreten, um Bernie Sanders zu unterstützen. Zu den Erstunterzeichnerinnen gehören neben dem bekannten US-Intellektuellen Noam Chomsky zahlreiche Akademikerinnen, Basisaktivistinnen und Gewerkschaftinnen. Manche von ihnen waren aktiv in der Occupy Bewegung, andere unterstützen seit Jahren Kämpfe in Communities und am Arbeitsplatz. Nicht alle sind ofizielle Bernie-Fans (was auch gut so ist), einzelne sind aber in der »The People for Bernie Sanders«-Kampagne aktiv. Im Brief wird das aus Sicht der Übersetzer berechtigtes Misstrauen zwischen sozialen Bewegungen und Parteien/Wahlsystem angesprochen.
Im Brief wird das aus Sicht der Übersetzer berechtigtes Misstrauen zwischen sozialen Bewegungen und Parteien/Wahlsystem angesprochen. Die Übersetzer (traditionell kritisch zu parteinaher Politik) sind der Meinung, dass der Brief interessante Fragen aufwirft. Vor allem für die Leserinnen in Europa und in Deutschland. Das Verhältnis zur parlamentarischen Politik ist seit dem Scheitern Syrizas in den Verhandlungen mit der EU mehr als beschädigt. Die meisten wussten es schon immer, aber viele mussten erst diese Erfahrung machen. Ähnliches bahnt sich in Spanien an, wo Podemos sich vor einem Kompromiss mit den Sozialdemokraten steht um eine Regierung zu ermöglichen (welche Form sie auch immer am Ende annehmen wird). Eine kritische Auseinandersetzung aber bleibt aus: Die romantischen Ausgeschiedenen (linker Flügel einer beliebigen erfolgreichen Linkspartei) warten auf die nächste Chance wieder von vorne anzufangen, und die, die es schon immer besser wussten, haben schon längst jegliche realistische Alternative den Rücken gekehrt.
Der linke politische Diskurs im anglo-amerikanischen Raum ist dahingehend schon allein aus der Hinsicht bemerkenswert und relevant für eine europäische Linke, weil mit Sanders in den USA und Corbyn in Großbritannien augenscheinlich nur dort in der westlichen Welt eine linke Alternative aus der Politik überhaupt realistisch scheint und (noch?) nicht gescheitert ist wie etwa in Südeuropa. Speziell der Brief der US-amerikanischen AktivistInnen ist interessant, weil die Selbsorganisierung als das Modell propagiert wird, was (gescheiterte) parlamentarische Politik überdauern kann. Wird sich Bernie darauf einlassen? Die Übersetzer sind gespannt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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