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Serie »Adolescence«: Der Hype um die Täterperspektive
Die Serie »Adolescence« bestätigt erneut: Themen wie misogyne Gewalt und Sexismus sind medial erfolgreicher, wenn sie die Täter porträtieren
Unfassbar viele Menschen haben sich in den vergangenen Wochen euphorisch zu »Adolescence« geäußert – der neuen Netflix-Miniserie, die »Männlichkeit in der Krise« beleuchtet. Rekordeinschaltquoten, eine Debatte über misogyne Einstellungen bei Teenagern, die Aufnahme der Krimi-Drama-Reihe in den britischen Schullehrplan: Es sind die typischen Reaktionen auf einen Hype aus der »Edutainment«-Sparte.
»Adolescence« befriedigt viele Bedürfnisse: Das Publikum fühlt sich gut unterhalten, hat das Gefühl etwas gelernt zu haben, und dann gibt es noch den cineastischen Kniff, dass alles in einem Take gedreht wurde. Gerade der letztgenannte handwerkliche Trick scheint bei vielen für einen »Wow«-Effekt zu sorgen. Journalistin Caren Miesenberger fragte sich jüngst auf einem ihrer Social Media-Kanäle, ob es nicht sogar sein könnte, dass es eben dieser One-Take-Trick war, der bei vielen für das Gefühl gesorgt habe, sie würden einem ganz besonders lehrreichen und einzigartigen Krimidrama-Moment beiwohnen. Miesenberger erinnert an den Hype um den Film »Victoria« von vor zehn Jahren – auch so ein One-Take-Blockbuster, der aufgrund handwerklicher Finessen extrem gefeiert wurde (und an dessen genauen Inhalt zumindest ich mich heute kaum noch erinnere).
Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie war lange Kolumnistin des »Missy Magazine« und ist außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Zuletzt hat Shehadeh bei Ullstein das Buch »Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen« veröffentlicht. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Pop-Richtfest«.
Ähnlich wird es mir wohl in ein paar Jahren mit »Adolescence« gehen – noch eine Geschichte aus (jung-)männlicher Perspektive, bei der man wenig über ein Opfer und allerlei Kram über einen Täter erfährt. Produktionen der vergangenen Jahre, die sich (auch sehr erfolgreich) den Themen Misogynie, Gewalt und Sexismus aus einer weiblich gelesenen Perspektive annahmen, haben und hätten es nie auf Schullehrpläne geschafft. »I May Destroy You« zum Beispiel, eine Serie über sexualisierte Gewalt. Oder auch »Promising Young Woman«, dem von der Kritik gefeierten Rachethriller aus dem Jahr 2021.
Braucht es überhaupt noch Serien, in denen lang und breit Täter als »main character« und (weibliche) Opfer als Kollateralnebenrollen vorgeführt werden? Und inwiefern reproduzieren diese Erzählweisen vielleicht auch Gesellschaftsproblematiken – obwohl ja das eigentliche Ziel sein soll, genau dies nicht zu tun?
Ebenfalls auf Netflix erschien dieser Tage auch eine Dokumentation über einen überaus bekannten Tötungsfall – leider ausgestattet mit einem sehr reißerischen Titel. Aber immerhin mit der Intention, das zurechtzurücken, was in vorheriger Berichterstattung oft zu kurz kam: keinen Fokus auf das Leiden, die Motive und das Selbstmitleid des Täters. Sondern Solidarität und Empathie mit Hinterbliebenen, denen man vielleicht zum ersten Mal angemessenen Raum gibt. »Vom Rockstar zum Killer: Der Fall Bertrand Cantat« beleuchtet den Femizid an der bekannten französischen Schauspielerin Marie Trintignant.
Im Sommer 2003, als sie mit Dreharbeiten zum TV-Film »Colette« beschäftigt war, wurde sie von ihrem damaligen Partner, dem »Noir Désir«-Sänger Cantat, in einem Hotelzimmer in Vilnius ins Koma geprügelt und dann stundenlang von ihm liegengelassen. Wenige Tage später starb sie an den Folgen der Schläge.
Ich erinnere mich sehr gut an diesen Fall: Nicht nur in Frankreich, auch in der DACH-Region bangte man in den deutschsprachigen Kultursendungen der üblichen Sender (Arte, 3Sat) tagelang mit, ob Trintignant noch mal aus dem Koma aufwachen würde. Und man fragte sich, wie jemand wie Cantat, der seinerzeit als linker Globalisierungsgegner und vorgeblicher Anti-Chauvi auftrat, zu so einer fürchterlichen Tat fähig gewesen sein konnte. Nach der Tat verstrickte sich Cantat in Widersprüche, sprach erst von einem Unfall, aufgrund der Beweislage dann aber später doch von einem tätlichen Angriff seinerseits gegen die Schauspielerin. Er wurde wegen Totschlags und unterlassener Hilfeleistung zu acht Jahren Haft verurteilt, von denen er drei verbüßte.
»Täter«, schrieb Marie Trintignants Mutter, die Regisseurin Nadine Trintignant später, »leben nicht zwangsläufig in Elendsvierteln. Es sind auch Männer darunter, die Zugang zur Kultur, also zum Denken haben, Männer rechter Gesinnung und, ob uns das passt oder nicht, auch solche der sogenannten Linken.« In ihrem Buch »Marie – meine Tochter, mein Leben«, aus dem diese Zeilen stammen, beschreibt sie auch, wie obsessiv und besitzergreifend Cantat in der Beziehung mit Trintignant war. Er war während der gesamten Dreharbeiten in Vilnius anwesend und bombardierte Trintignant von früh bis spät mit SMS.
Teile der französischen Presse hingegen romantisierten die Tat. Eine Geschichte perfekt für das Sommerloch – vor allem das des Jahrhundertsommers 2003 – und angesiedelt in der Welt der Stars und Sternchen. Ein Zeitalter vor #MeToo oder Begriffen wie »Femizid«, stattdessen ein übliches Rekurrieren auf Quatschkonzepte wie »Amour Fou« und »Verbrechen aus Leidenschaft«. Cantat habe Trintignant so sehr geliebt, dass er sie einfach aus einer Verzweiflung heraus angegriffen habe, als er einen Eifersuchtsanfall wegen einer SMS ihres Ex-Partners bekam.
Die Trintignant-Familie, die versuchte, eine angemessene Strafe für Cantat zu erwirken, wurde damals oft als verschrobener und abgehobener Künstler-Clan mit Rachefantasien abgewatscht. So wurde zum Beispiel auch das Buch von Nadine Trintignant in der französischen Presse als »Schrei des Hasses« belächelt – als unnötige Abrechnung mit einem sensiblen Künstlergenie, dem nun für immer der Makel einer tödlichen Tat, begangen aus Versehen, anhaftete.
Dabei gab es 2003 durchaus schon ein ausgeprägtes Bewusstsein für Gewalt gegen Frauen in Frankreich – und man hatte Zahlen. 2001 starb in Frankreich durchschnittlich alle fünf Tage eine Frau an häuslicher Gewalt, 2004 waren es 162 Frauen. Im April 2003 hatte Fadela Amara die – durchaus auch kontroverse – Bewegung »Ni Putes Ni soumises« (»weder Huren noch unterwürfig«) gegründet, die auf die Lage der Frauen in den Banlieues aufmerksam machte. Mitte Juli 2003, knapp zwei Wochen vor Cantats Angriff auf Trintignant, hatte die Bewegung zum Nationalfeiertag eine in Frankreich viel beachtete Aktion ins Leben gerufen: eine Ausstellung, welche eine Fotoreihe von 14 modernen »Mariannen« zeigte, die sich für die Rechte von Frauen einsetzten. Weil man damals aber Gewalt gegen Frauen vor allem als Phänomen männlicher Migranten skandalisierte, ließ der Täter Cantat viele ratlos zurück. Heute macht Cantat wieder Musik – zwar verhalten, aber auch nicht unerfolgreich.
In der deutschsprachigen Presse bekleckerte man sich vor über 20 Jahren teilweise auch nicht mit Ruhm, wenn man auf die Cantat-Trintignant-Berichterstattung zurückblickt. 2003 presste man schwülstige Sätze wie »Ein Mensch ist tot, und ein anderer zerstört fürs Leben« zum Fall Cantat-Trintignant auf Papier – da wusste man natürlich noch nicht, dass Cantat irgendwann in der Zukunft wieder auf der Bühne stehen und ganz casually einen Instagram-Account bespielen würde.
»Ein sensibler Mensch in der Welt der Machos« sei Cantat gewesen, und Marie Trintignant eine Lebefrau, die »immer in vollen Zügen gelebt« und »drei Kinder von vier Partnern« gehabt habe. Ein Schelm, wer bei diesen Sätzen Böses denkt. Femizid – ein ganz normales Alltagsdrama, das schon mal vorkommen kann. Und selbst in Frankreich, wo die Tötung von Marie Trintignants keinesfalls als »persönliches Drama« abgehandelt wurde, sondern schon eine Art Staatsaffäre war, nahmen Cantat und sein Selbstmitleid seinerzeit immer noch außerordentlich viel Raum ein.
Ich habe vor ziemlich genau drei Jahren geschrieben, dass Gesellschaften in weiten Teilen immer noch nicht bereit sind, über Beziehungsgewalt zu sprechen, die die Täter*innen nicht direkt ins Gefängnis und die Opfer nicht ins Krankenhaus bringen. Das würde ich heute wahrscheinlich nicht mehr so unterschreiben – Femizide werden immer noch viel zu häufig als ganz normale Alltagsdelikte wahrgenommen. Auch, weil man sich allzu gerne mit den Tätern und den Motiven beschäftigt.
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