Imponierend konfuses Irgendetwas
Todtraurige Heiterkeit: Joachim Meyerhoffs Roman »Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke«
Was im Alltag eine simple Lüge, das ist in der Dichtung mitunter Wahrheit, die die Dimension des Möglichen in sich birgt. Joachim Meyerhoff findet dafür einen Titel, der alle drei halbautobiographischen Romane, die er bislang vorlegte, begleitete: »Alle Toten fliegen hoch«. Sehr hoch sogar - zu hoch für uns? Es sind die Toten, die uns am Leben halten. Sie sind der Stoff, den wir ausbeuten - und sie selbst können sich nicht mehr dagegen wehren, dass wir sie in der Erinnerung zu etwas machen, das sie uns hätten sein sollen, aber so ganz dann doch nie waren.
Der Autor, Jahrgang 1967, ist seit langem einer der profiliertesten Theaterschauspieler und Regisseure zwischen München und Hamburg. Bis 2005 war er am Berliner Gorki Theater engagiert und bezauberte dort durch ein Maß an Verschrobenheit, das man im Nachhinein nur erhellend finden kann.
Seltsamerweise, so scheint mir heute, ist kaum jemandem aufgefallen, was für ein ungewöhnlicher Geist da seine Phantom-Existenz selbst noch im Keller des Theaters führte - wo dann »Sauna« gespielt wurde, mit allen längst verblichenen Theatergeistern dieses Hauses. »Marathon« war ein weiterer seiner denkwürdig radikalen Gorki-Abende. Hier verausgabten sich die Schauspieler neunzig Minuten lang auf Laufbändern, was ihren atemlosen Worten am Ende zumindest einen besonderen Klang gab. Es ist bei Meyerhoff immer trotzige Ironie spürbar, mit der er die Außenwelt abwehrt, grundiert jedoch mit einer Schwermut, die die Wirklichkeit in ein poetisches Phänomen verwandelt.
Er hat sich erstaunlich viel Zeit gelassen mit dem Schreiben. Seit über zehn Jahren ist immer mal wieder etwas davon zu hören gewesen - Joachim Meyerhoff selbst las und sprach und spielte auf der Bühne aus dem noch ungedruckten Manuskript. Er schien damit den Beweis antreten zu wollen, dass Aberwitz und Übermut das paradoxe Zugleich von todtrauriger Heiterkeit zu kultivieren vermögen.
Nach »Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war« und »Alle Toten fliegen hoch. Amerika« nun also der dritte Teil: »Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke«. Die Familiensaga rundet sich. Schon im Buchtitel stellt uns Joachim Meyerhoff auf die Probe, denn was für eine »entsetzliche Lücke« meint er bloß? Erst auf Seite 321 erfahren wir, es ist jene, von der Goethes Werther spricht: »Ach diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle!« Ein Werther-Solo war für den aufs Versagen programmierten Jungschauspieler im Erstengagement in Kassel der Durchbruch, mit Hilfe der Stimme seiner Großmutter (einer berühmten Schauspielerin) eingespielt aus dem Off.
Und siehe, die Lücke ist nicht nur etwas, das als Text im »Werther« steht, es ist auch ein beherrschendes Grundgefühl im Leben des Autors Meyerhoff. Der Bruder starb, der Vater und schließlich die Großeltern, die er so liebte und bei denen er während seiner Schauspielschulzeit in München wohnte. Womit die die Lücken füllen, die Menschen hinterließen?
Die schnöde Welt hier und die eigene unstillbare Sehnsucht da. Wie sollen sie je zusammenkommen? Für Werther, der seine Sehnsucht ausgerechnet auf Lotte projiziert, die es mehr mit der Welt als mit der Sehnsucht hält und für die er bloß ein romantischer Spinner ist, gar nicht. Wie jeder echter Romantiker, dem das Leben etwas unbedingt Gewolltes vorenthält, flüchtet Werther eilig in den Tod.
Dieser Werther wird für Meyerhoff, bis eben ein unbeholfen-unglücklicher Schauspielschüler in München, zur glücklichen Fügung: »Ich sagte mir: Dieser Werther, der sieht sich selbst genau wie du die ganze Zeit beim Leben zu. Um Werther spielen zu können, durfte ich uneins mit mir sein.«
Das also ist das, was mit diesem Buch vor uns steht: ein exzentrisches Requiem, ein Erinnerungen beschwörendes Ritual im Angesicht der Übermacht des Todes. Das Haus der Großeltern wird zur Bühne, auf der tagtäglich ein einziges Stück gegeben wird: Lerne die Kunst des Lebens, die darin besteht, jeden Augenblick so zu zelebrieren wie eine Abschiedsvorstellung vor auserkauftem Haus. Die Intensität der gemischten Gefühle wurzelt hier. Ebenso die Einsicht, dass lebenserhaltende Erinnerung der Rituale bedarf.
Immer auf Neue ist man verblüfft, wie dieser schreibende Schauspieler sich mit jedem Satz, den er mit leichter Hand in Stein zu meißeln scheint, als bildstarker Wortarbeiter präsentiert. Das ist mehr als nur eine ebenso unterhaltsame wie skurrile Geschichte. Hier wird der Erziehungsroman in postmoderne Miniatur gebracht, ohne darum aufzuhören, ein Teil der Menschheitssaga zu sein. Das Schicksal bleibt brutal, selbst dann, wenn wir öfter darüber lachen als weinen.
Die Lücke, die wie eine fehlende Brücke zu Welt war, wird schließlich im Hause der Großeltern geschlossen. Mit liebevoller Bosheit beschreibt Meyerhoff, wie man hier bereits morgens früh den Tag mit einem Glas Champagner begann, dann über Weißwein zu Mittag über den Whisky am Nachmittag zum Rotwein am Abend gelangte. Der Großvater (ein Philosophieprofessor) und die Großmutter (die das Talent besessen habe, das Große beiläufig und das Marginale groß zu spielen - auch im Alltag) schwebten schließlich wie »volltrunkene alte Engel« auf ihren Treppenliften gen Schlafzimmer, um am nächsten Morgen mit ganzer Frische dem gleichen Ritual entgegenzublicken. Während der Jungschauspieler seinen von den Alkoholmengen der Großelternwelt noch schweren Kopf kaum aus den Kissen heben konnte, hörte er bereits das fröhliche Knallen der Korken von Champagnerflaschen, mit dem die Großeltern den neuen Tag feierten.
Was lernt man daraus? Weniger zu trinken? Das nicht unbedingt, eher dass jeder Exzess - gleich ob im alltäglichen Leben, auf der Bühne oder beim Schreiben - einer strengen Form bedarf.
Neben der heilen Welt im Großelternhaus blicken wir mit Meyerhoff auch in die kaputte Welt, als die ihm die Schauspielschule vorkommt. Immer ist er hier auf dem Sprung, davonzulaufen, bevor man ihn hinauswirft. Er will nicht das »Instrument« anderer sein, er meint hier die »Unschuld« seiner Atmung zu verlieren, er erträgt nicht die übergroße physische Nähe zu den Mitschauspielschülern, bei gleichzeitiger völliger Bedeutungslosigkeit dieser Nähe.
Meyerhoffs nie pedantisch-besserwisserische Art, auf feinsten sprachlichen Nuancen zu bestehen, gibt dem Buch etwas von den höheren Weihen eines Simplicissimus, der Schulen besuchte, von denen wir nur träumen können - und wohl auch sollen. Als der Versager-Schauspielschüler endlich ein (ein einziges!) Engagement-Angebot erhält, kommt es - so vernichtend ist nur die Provinz! - ausgerechnet vom Landestheater Schleswig-Holstein. Dort war er aufgewachsen und von dort auch zur Schauspielschule nach München geflüchtet. Nun bricht er vor den Augen der ihn kühl beobachtenden Großmutter mit einem Weinkrampf zusammen, liegt unaufhaltsam schluchzend auf dem Perserteppich des Wohnzimmers.
Die Großmutter, jeden Augenblick den Enkel liebende, aber nie schonende Großschauspielerin, ruft dem Großvater mit strenger Bühnenstimme zu: »Er ist erledigt!«.
Und jetzt kommt die wunderbare Volte des Erzählers Meyerhoff, der sich mitten im Zusammenbruch darüber zu wundern vermag, warum die Großmutter offenbar ein kleines Wort in ihrem Urteilsspruch zu sagen vergessen hat. Meinte sie nicht »völlig erledigt«? Vielleicht auch nicht?! Eine Ahnung, tief in ihm, hört den schicksalhaften Urteilsspruch, der im Fehlen des kleinen, die Dramatik wieder ins Umgangssprachliche zurückbiegenden Wörtchens »völlig« liegt. Etwas in ihm beginnt sich augenblicklich dagegen zu wehren.
Als er mit der Schauspielerei anfing, sei er »ein konfuser Nullpunkt, ein wirres Irgendetwas« gewesen. Hat sich das inzwischen geändert? Vor allem eins: Er kann es inzwischen ausdrücken, nicht nur auf der Bühne, auch schreibend - und das auf imponierende Weise.
Joachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke. Kiepenheuer & Witsch, 348 S., geb., 21,99 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.