Gestreikt wurde immer anderswo

1946 beschäftigte der Bergarbeiterstreik in den USA das »Neue Deutschland«. Arbeitskämpfe waren in der Zeitung oft ein Thema - aber es gab auch Ausnahmen. Von Gabriele Oertel

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie hatten es im Gründungsjahr von »Neues Deutschland« gleich mehrmals auf die Titelseite geschafft: die Bergarbeiter in den USA. 400 000 von ihnen hatten 1946 gleich zweimal über einen langen Zeitraum - im Frühjahr fast für zwei Monate - die Arbeit niedergelegt. Da konnte Präsident Truman noch so sehr über die vermeintliche Ungesetzlichkeit wettern und die Automobil- und Stahlindustrie Aussperrungen ankündigen - die Bergarbeitergewerkschaft legte die US-Wirtschaft Stück für Stück lahm. Es ging den Kumpels damals um die Verbesserung der Grubensicherheit, um die Verkürzung der damals bei ihnen üblichen 54-Stunden-Woche, um ein Mitspracherecht bei der Verwaltung der Rentenkasse, um Teuerungsausgleich - also um einen ordentlichen Tarifvertrag. Nachdem der Streik im April und Mai, bei dem schon am ersten Streiktag 2250 Gruben in 26 Bundesstaaten stillgelegt worden waren, nur Teilerfolge gebracht hatte, rafften sich die Bergarbeiter im November noch einmal auf, um all ihre Forderungen durchzusetzen. Doch am 7. Dezember 1946 meldete »ND« auf Seite 1: »USA-Bergarbeiterstreik abgebrochen«.

Bereits am 30. November hatte Paul Merker auf Seite 2 den Lesern der neuen Zeitung aus der sowjetischen Besatzungszone zu erklären versucht, was da auf dem weit entfernten amerikanischen Kontinent vor sich ging. Von Drohungen der US-Regierung mit der militärischen Besetzung der Gruben und der Enteignung der Bergarbeitergewerkschaft schrieb der gerade aus dem Exil zurückgekehrte deutsche Kommunist, der inzwischen zum engsten Führungszirkel der SED gehörte. Und geradezu eindringlich in die erst entstehende neue Gesellschaft - zumindest in einem Teil Deutschlands - hinein mahnte der erfahrene Gewerkschafter: »Der Tarifvertrag und damit die Gewerkschaft ist im Bewusstsein der amerikanischen Bergarbeiter … oft von größerer unmittelbarer Bedeutung als die Höhe des Lohnes selbst. In dieser Hinsicht sollte ihnen auch bei uns nachgeeifert werden, vor allem, was die unbedingte Einheit der Gewerkschaftsbewegung betrifft.«

Merkers weiteres Schicksal ist vielen Älteren bekannt. Nur vier Jahre nach jenem ND-Artikel wurde er unter abenteuerlichen Anschuldigungen und vor dem Hintergrund der Noel-Field-Affäre aus der SED ausgeschlossen, 1952 inhaftiert, 1956 aus der Haft entlassen, später wieder in die Partei aufgenommen und damit quasi rehabilitiert. Sein Wunsch nach einer einheitlichen Gewerkschaftsbewegung wurde in der DDR zwar erfüllt - doch dass den renitenten US-Bergarbeitern mit handfesten Arbeitskämpfen nachgeeifert worden wäre, kann man nicht behaupten. Nichts scheute die SED-Führung mehr als Streiks, nichts trachtete sie bei allen Problemen, mit denen die Beschäftigten sich über die Jahrzehnte in den Betrieben auch herumschlagen musste, mehr zu verhindern - mal durch Zugeständnisse an unzufriedenen Belegschaften, mal mit Härte.

Mit Ausnahme der Monate um den 17. Juni 1953, dieses für die führenden Genossen traumatische Datum - die ND-Reportage von Katja Stern und Siegfried Grün über die explosive Stimmung unter den Bauarbeitern in der damaligen Berliner Stalinallee ist inzwischen Legende -, fanden im »Zentralorgan« deshalb Berichterstattungen zwar regelmäßig von den »Kampfplätzen für den Frieden«, aber nicht über Arbeitsniederlegungen im Inland statt. Gestreikt wurde immer nur anderswo. Ob 1957 die Bankangestellten in Frankreich, die eine Million italienischen Bauarbeiter 1965 oder die Angestellten der belgischen Provinz- und Gemeinderäte 1972 die Brocken hinschmissen - das alles fand seinen Platz in dieser Zeitung. Selbst der Streik der Westberliner Friseure ob ihres sterbenden Handwerks am 25. Januar 1950 schaffte es auf die Titelseite von »Neues Deutschland«. Ganz zu schweigen vom einjährigen Bergarbeiterstreik 1984/85 in Großbritannien oder dem längsten Arbeitskampf in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte bei Krupp in Rheinhausen 1987/88. Derlei Ereignisse waren dem »ND« ganze Seiten wert, dienten neben der Schilderung der Ereignisse vor Ort gleichsam als Belege der Überlegenheit des sozialistischen Systems und seiner Planwirtschaft.

Als diese letztlich verheerende Selbstgewissheit erste, nachhaltige Störung erfuhr, wie im Sommer 1980 durch öffentliche Proteste und den Streik der polnischen Solidarnosc-Bewegung am 14. August auf der Leninwerft in Gdansk, folgte zunächst - Schweigen. Immerhin: Am 16. August veröffentlichte diese Zeitung auf Seite 5, versteckt in einer Randspalte, eine ADN-Nachricht, die allen, die via Westfernsehen schon von den Protestbewegungen an der polnischen Ostseeküste informiert waren, wie ein schlechter Witz vorkommen musste. »Der Vorsitzende des Ministerrates der Volksrepublik Polen, Edward Babiuch, hielt am Freitagabend im polnischen Fernsehen eine Ansprache, in der er darauf hinwies, dass die gegenwärtigen Schwierigkeiten im Lande nur durch höhere Arbeitsproduktivität gelöst werden können. Die zeitweiligen Arbeitsniederlegungen bezeichnete er als schädlich für die Entwicklung der Volkswirtschaft. Polen sei durchaus in der Lage, seine ökonomischen Probleme zu meistern. Das wüssten auch seine Verbündeten. Notwendig sei, die eigenen Anstrengungen zu erhöhen, um ein richtiges Verhältnis von Arbeit und Verteilung zu erreichen.«

Die Nachricht verschweigt nicht nur das Ausmaß des Protestes im Nachbarland, sondern auch den Anlass - massive Preiserhöhungen insbesondere beim Fleisch. Und damit der flüchtige ND-Leser nicht etwa trotzdem aufgeschreckt würde, hatten die Redakteure - ganz gewiss nicht ohne entsprechende Politbüro-Anleitung - die unverfängliche Überschrift: »Edward Babiuch für ausgeglichenes Verhältnis von Arbeit und Verteilung« über den 20-Zeiler gesetzt. Wieder mussten danach Tage vergehen, um erneut auf einer hinteren Seite vom Plenum der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei zu berichten, auf dem auch die Schuldigen für die polnischen Arbeitskämpfe ausgemacht worden waren: »betriebsfremde Personen, die zu den Streikenden gestoßen seien«, um die »entstandene Situation« für ihre eigenen Zwecke auszunützen, die im Widerspruch zu den Interessen der sozialistischen Gesellschaft stünden. Wer sich in der sozialistischen Wirtschaft etwas besser auskannte, wusste freilich, dass Letzteres sicher nicht aus der Luft gegriffen, aber dennoch nur ein Teil der Wahrheit war.

Wen sollte es also wundern, dass Wirtschaftsjournalisten in der DDR zu den größten Zynikern zählten? Sie, die in den Betrieben landauf landab unterwegs waren, wussten um die Fragilität in Industrie und Landwirtschaft, sahen mit den Jahren immer öfter abwinkende Praktiker, wütende Brigadiers und ratlose Wirtschaftskapitäne, die hinter verschlossenen Türen freilich Klartext redeten und auf ZK-Wirtschaftssekretär Günter Mittag schimpften - um dann doch artig den Journalisten alle Kennziffern zwischen Industrieller Warenproduktion, Nettoproduktion, Konsumgüterproduktion, Arbeitsproduktivität, Kostensenkung und Exportquote in die Blöcke zu diktieren.

Dabei waren in den 50er und 60er Jahren noch Hemmnisse und Missstände wie Transport-, Zulieferer- oder Ersatzteilprobleme »an der Basis« durchaus Gegenstand von Betriebsreportagen in den Zeitungen - wenn auch als Beleg des »ständigen Vorwärtsschreitens«. Doch in den 80er Jahren war der DDR-Wirtschaftsjournalismus zu einer Veröffentlichungsmaschinerie eines einzigen riesengroßen Briefkastens verkommen, in den die »sozialistischen Kollektive« ihre »Verpflichtungen zur Erfüllung der Beschlüsse des Parteitages und zum Wohle des Volkes« eingesteckt hatten und der aller Tage im Zentralkomitee der SED zufrieden geleert wurde, um die besten »Wortmeldungen« an das »Zentralorgan« zum Abdruck weiterzuleiten.

Dabei konnte die übergroße Zahl der Journalisten in den Wirtschaftsabteilungen der DDR-Medien und nachgerade im »ND« tolle Reportagen schreiben, in denen Gesichter wie Geschichten aus dem Produktionsalltag lebendig wurden. Vielleicht, weil es viel zu selten möglich war, das eigene Talent sichtbar zu machen, haben die Schreiber sich für eine Geschichte aus dem Alltag, wenn auch zuvörderst bei Wettbewerbssiegern, richtig hineingekniet - und herausgekommen sind spannende und lebhafte Porträts von Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich krumm gemacht haben, für den eigenen besseren Verdienst und das persönliche Ansehen, aber auch für den Ruf ihres Betriebes oder ihrer LPG und ja, irgendwie auch für den ihres Landes.

Natürlich waren solche Beiträge nicht frei von Ideologie und manchmal leider auch nicht frei von Phrasen und Pathos - aber es waren journalistische Produkte aus einem Themenkreis, der heute in der bundesdeutschen Medienlandschaft absolute Mangelware ist. In Zeitungen und anderen medialen Veröffentlichungen sind ganz normal arbeitende Menschen selten vertreten. Themen aus der Arbeitswelt, so beklagte jüngst erst der DGB Nord, kämen in TV-Produktionen kaum noch vor. Die Gewerkschafter erinnerten an Filme von Rainer Werner Fassbinder zu Beginn der 70er Jahre. Sie könnten auch in das Archiv dieser Zeitung gehen. Denn nicht nur vor, sondern auch nach 1989 sind im »nd« große Geschichten über den Alltag in Betrieben und den angesichts der Treuhandaktionen auch wiederbelebten Wert der Arbeit im Leben ganz einfacher Menschen geschrieben worden - und werden weiterhin produziert. Das zumindest sei versprochen. Und Streiks hierzulande sind zum Glück längst kein Tabu mehr.

Gabriele Oertel, Jahrgang 1953, ist stellvertretende nd-Chefredakteurin.

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