Die Insel der Eurokraten
Unter höchstem Einsatz suchte Martin Leidenfrost nach der europäischen Idee. Die Kraft reichte aber nur für den Hinweg
Das verlassene Gefängnis auf der unbewohnten Insel ist rund. Auf drei Etagen bilden jeweils 33 Zellen ein Panoptikum, in dem das Auge der Aufseher absolute Kontrolle über die Gefangenen hatte. Das Tyrrhenische Meer, das man von dem 80 Meter hohen Felsen splendid überblickt, konnten die Häftlinge nicht sehen. 1860 riefen hier aufständische Camorra-Führer für drei Monate eine brutale »Republik von Santo Stefano« aus. Bis 1965 dünsteten auf Santo Stefano Mörder, Anarchisten, Linke und Antifaschisten meist slawischer Herkunft. 2015 besuchte der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi das nur 27 Hektar große Eiland und verkündete die einzige logische Nachnutzung: Er will den perfekten Kerker für 80 Millionen Euro in eine Eliteschule für künftige Eurokraten umbauen. Ich wollte unbedingt hinschwimmen.
Die Entfernung von der bewohnten Insel Ventotene beträgt 1600 Meter, meine Hallenbad-Distanz. Eine Italienerin schrieb im aufstrebenden Brüsseler Online-Magazin »Politico«, dass »viele Einheimische nach Santo Stefano schwimmen«. Die befragten Einheimischen rieten mir zwar nicht zu - »zu weit«, »zu kalt«, »zu windig«, »verboten«, »du wirst von der Küstenwache oder Finanzpolizei bestraft«. Die Strömung, die mich aufs offene Meer hinaustreiben würde, erwähnte jedoch niemand.
Ich schwamm an einem herrlichen Sonnentag los. Etwa eine Stunde war ich prächtiger Laune, bis ich mich weit rechts von der gelben Boje fand, die ich weit links hätte passieren müssen. Ganz langsam bekam ich es mit der Angst. Ich verfluchte mich dafür, mir kein leichteres Thema gesucht zu haben: Die hybride Protestpartei »Fünf Sterne« wird nach dem Tod ihres Internet-Gurus Casaleggio endgültig zum »Online-Gulag«, mancher Feuilletonist sieht in den Überlegungen Mario Draghis, »Helicopter Money« über Europa abzuwerfen, den Anbruch einer »römischen Epoche« in der EU-Geschichte; und ich dummes europaverrücktes Arschloch stemme mich kurz vor meiner Hochzeit gegen kalte und warme Meeresströme, gepeitscht von Schwärmen entgegentreibender Feuerquallen, und komme nicht vom Fleck. Ich atmete keine Sekunde durch. Ich fühlte meine kleinen Finger taub werden.
Nach zweieinhalb Stunden Kampfes rückte die schwarze Landungstreppe näher. Eine alte Statue der Muttergottes beruhigte mich. Ich stolperte röchelnd und wankend an Land. Benommen erkannte ich in der Statue Jesus Christus, der uns Gefangene mit distanziert ausgebreiteten Händen empfing. Wie ein Zombie rannte ich zum »Kerker der Bourbonen« hinauf. Wenn es nicht feuergeborene Salamander wie auf den Cognac-Flaschen des europäischen Gründervaters Jean Monnet waren, so huschten mindestens Eidechsen über die warmen Steinplatten. Der kreisförmige Innenhof, eine Inspiration aus Dantes Inferno, war versperrt. Eine Marmortafel erinnerte an hier inhaftierte Gegner des italienischen Faschismus, darunter an den Sozialisten Sandro Pertini, später ein hoch geachteter Staatspräsident. Im hohen Unkraut raschelten große Lebewesen. Keinerlei Bauarbeiten hatten begonnen, allein an einem Außentürmchen waren schon vor längerem drei Plastikfenster eingebaut worden.
Ich wusste, dass ich die Kraft zum Zurückschwimmen nicht hatte. Zwei Mal hatte ich fernen Fischerbooten gewinkt, die hatten abgedreht. Die Verbrennungen durch Quallen schwollen und schmerzten. Ich suchte nur noch meine Kräfte zu schonen, sparte mir das wenige Wasser in der mitgebrachten Kapsel auf. Ich hatte auf Santo Stefano über die Zukunft der EU reflektieren wollen, konnte aber nur an die Länge der italienischen Mittagspause denken. Manchmal fuchtelte ich und schrie um Hilfe. Das blaue Meer blieb leer. Ich legte mich unter eine autarke Solarlampe, lehnte den Kopf an eine aus dem Fels ragende Eisenstange. Aus dem üblichen Geschrei der kreisenden Möwen hörte ich zwei bislang unbekannte Töne - ein dunkles Keppeln und ein intrigantes Kichern.
Schließlich raste ein Motorboot auf mich zu, und ein Engel in einem weißen Kunstlederkleid reichte mir lächelnd Wasser. Der Bootsmann sagte: »Ein anderer hat’s vor drei Tagen nicht auf Santo Stefano geschafft, den zogen sie halb tot aus dem Meer.« Ich vergaß zu fragen, ob der andere auch wegen Europa gekommen war. Sollten tatsächlich einmal Eurokraten im Kerker ihre Runden drehen, fordere ich mindestens eine Einladung zu einem Seminar. Die habe ich mir erkämpft.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.