Ein Verein für die Solidarität
Von SYRIZA lernen: Warum die Linkspartei ein Netzwerk wie »Solidarity4All« braucht. Vorschlag zur Debatte über die Strategie der Linkspartei von Katalin Gennburg, Jan Schlemermeyer und Moritz Warnke
DIE LINKE versteht sich als ein Motor sozialer Veränderung – und als der wird sie auch dringend gebraucht. Denn die gesellschaftliche Lage spitzt sich zu und das politische System gerät in Bewegung. Allerdings scheint die Situation im parlamentarischen Betrieb, mit der fortgesetzten Weigerung von Grünen und SPD von ihrem neoliberalen Kurs abzuweichen, vorerst festgefahren und droht, siehe die Wahlerfolge der AfD, noch weiter nach rechts zu kippen.
Dem linken Motor fehlt unterdessen – zumindest auf Bundesebene – auf absehbare Zeit eine parlamentarische Durchsetzungsperspektive. Das kann man gut oder schlecht finden, aber man sollte es zur Kenntnis nehmen. Die WählerInnen tun es jedenfalls – und damit stellen sich ein paar unangenehme Fragen für DIE LINKE.
Für den Egoismus der »kleinen Leute« hat es unter den gegebenen Umständen ein rationales Moment, wenn sie bei Bundestagswahlen lieber die SPD wählen, die in einer großen Koalition wenigstens einen (zu niedrigen) Mindestlohn durchbekommt. Von dieser wohl kalkulierten Überlegung lassen sich auch Großorganisationen leiten, wie man z.B. an Gewerkschaften ablesen kann.
Das führt zu der Frage: Was ist der Gebrauchswert der LINKEN? Diese Frage ist keine Kleinigkeit, wenn man eine Stimme für DIE LINKE nicht zur symbolischen Geste verkommen lassen will, die für die ohnehin Überzeugten und die, die es sich leisten können, reserviert ist. Wie geht das also, eine Partei, die man gebrauchen kann? Der oft formulierte Anspruch, eine Mitgliederpartei zu sein, die die sozialen Interessen des ‚Unten’ und der solidarischen Mitte artikuliert und in politische Praxis übersetzt, bleibt richtig, ist angesichts des realen Zustands unserer Partei und des politischen Betriebs derzeit aber noch eher eine Zielangabe als eine Zustandsbeschreibung.
Die LINKE als Organisation weiterentwickeln
Das heißt: Wenn der klassische Weg parlamentarischer Politik versperrt ist, um substantielle Veränderungen auf den Weg zu bringen (und das könnte noch etwas länger der Fall sein), muss DIE LINKE sich weiterentwickeln und auch jenseits der Parlamente ihren Job als verbindende Partei machen. Denn in der aktuellen Situation droht die gesellschaftliche Linke in einem Schlagabtausch zwischen neoliberaler Mitte und national-konservativer Rechter Schachmatt gesetzt zu werden. Ein gesellschaftliches Lager der Solidarität ist zwar durchaus vorhanden, aber politisch noch nicht formiert.
Wie schaffen wir es, das zu ändern und DIE LINKE zu einem echten Bündelungspunkt dieses Lagers zu machen? Neben guten politischen Kampagnen und einer Öffnung hin zur gesellschaftlichen Linken braucht DIE LINKE dafür nicht zuletzt eines: mehr soziale Verankerung in den Vierteln und im Alltag, dort wo sich die soziale Fragen unserer Zeit in konkreten Ängste, Notlagen und Handlungsbedarfe übersetzt. An diesem Punkt setzt der Antrag »Solidarität hilft« zum kommenden Bundesparteitag an. Er soll ein Beitrag für die vor uns liegenden Aufgaben sein, um DIE LINKE als Organisation weiterzuentwickeln.
Worum geht es? Die Idee ist, eine ähnliche Struktur wie das griechische »Solidarity4All«aufzubauen und sie dabei auf die Situation hier in Deutschland anzupassen. SYRIZA hatte »Solidarity4All« als parteiunabhängigen Verein gegründet, der sich über einen Teil (20 Prozent) der Mandatsträgerbezüge finanziert und Projekte solidarischer Alltagshilfe unterstützt.
Von SYRIZA lernen
Unter dem Namen »Solidarität hilft« könnten wir angelehnt an das Modell »Solidarity4All« Stellen und ein Kampagnenfonds in einem eigenständigen Verein finanzieren. Die so gesammelten Ressourcen wären wichtig, um Projekte anzustoßen, zu unterstützen und zu begleiten: für den Aufbau dauerhafter Verbindungen von Unterstützung, Bildungsarbeit und politischer Organisierung, zum Beispiel in Auseinandersetzungen um steigende Mieten, in der Organisierung Erwerbsloser, für die Selbstorganisation von Jugendlichen und Flüchtlingen, für Re-Kommunalisierungs-Initiativen. Keine reine Sozialarbeit, aber Projekte, die einen Unterschied machen, Lebensqualität durch Solidarität im prekären Alltag verbessern und politische (Selbst-)Organisierung in der Gesellschaft stärken.
Ein paar unsystematische und unvollständige Schlaglichter, wie das konkret aussehen könnte:
-
Die Sozialberatungen (z.B. zu Hartz4 oder Mietenproblemen) im Rahmen von »DIE LINKE hilft« werden ausgebaut und intensiver mit Schulungen begleitet, um neben dem Fachwissen auch Wissen über Möglichkeiten zu bekommen, wie die Menschen über eine Beratung als individuelle Rechtssubjekte hinaus aktiviert und im besten Fall langfristig für gemeinsames Handeln gewonnen werden können. Mögliche Anknüpfungspunkte könnten z.B. an Hartz-4-Beratungen angeschlossene Einladungen zum regelmäßigen Stadteilfrühstück sein, auf denen sich formlos über gemeinsame Strategien im Umgang mit dem Jobcenter, über Veränderungen im Kiez oder anstehende politische Aktionen ausgetauscht werden kann. Das gerade erfolgreich über Crowdfunding finanzierte Projekt »Sanktionsfrei« bzw. die derzeit in Produktion befindliche App könnte dort auch mal vorgestellt werden. Vielleicht wird hin und wieder nur kostenlos Kaffee und Croissant abgegriffen – wäre auch in Ordnung.
-
In Anschluss an die Erfahrungen offener Abgeordnetenbüros wie dem linXXnet (Leipzig) oder dem RedroXX (Erfurt) könnten die Abgeordnetenbüros zu neuen Knotenpunkten werden, etwa als Internetcafés für Geflüchtete.
-
Einzelne Projekte außerhalb der Partei könnten finanziell und systematisch unterstützt werden, wir denken z.B. an »Zwangsräumungen verhindern« oder die vielen Hilfsinitiativen, die sich seit dem letzten Sommer darum bemühen, dass hier ankommende Menschen gesellschaftliche Solidarität erfahren, um das Nötigste und bestenfalls auch etwas mehr bereitzustellen.
-
Das fachliche und methodische Wissen, um Sozialberatungen und solidarische Alltagspraxis mit organisierenden Perspektiven zu verbinden, könnte über Workshops in einer »Akademie der Solidarität« organisiert werden, ggf. in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung
-
Bei thematischen Regionalkonferenzen könnten das Wissen, die Bedarfe und die Energie der unterschiedlichen Akteure, die die Folgen der sozialen Spaltungen des Neoliberalismus bearbeiten, zusammen gebracht werden. Die Netzwerke der Hilfe könnten so gestärkt und u.U. gemeinsame Handlungsperspektiven erarbeitet werden. Entwickelt werden könnten Ideen für regionale Initiativen (z.B. Sozialtickets, kostenlosen ÖPNV oder Sondertarife für Menschen in Altersarmut bei kommunalen Stadtwerken) oder Portale und Plattformen, die ihr Wissen systematisiert aufbereiten, um die Arbeit zu erleichtern und abzusichern.
Strategische Überlegungen und Konzepte sind nur so gut, wie sie in einer bestimmten Konstellation unsere Handlungsfähigkeit erweitern und nicht als »Antwort auf Alles« überdehnt werden. Wir haben eingangs bereits anklingen lassen, dass es für DIE LINKE weitere »offene« Baustellen gibt. Deswegen gestehen wir gerne zu: Es gibt die Gefahr, sich im Klein-Klein der Alltagshilfe »zu verlieren«.
Diese Gefahr ist bei politischen Parteien mit regelmäßigen Wahlkämpfen und eigenständigen politischen Kampagnen allerdings überschaubar. Umgekehrt besteht vielmehr die Tendenz, sich im Politikbetrieb zu verschanzen, beschäftigt mit wichtigen Talkshows und sachlich richtigen, aber wirkungslosen Anträgen in den Parlamenten, aber für konkrete soziale Probleme der Leute nicht oder nur ungenügend ansprechbar. Der Aufbau einer Solidarität-hilft-Struktur wird da keine Wunder bewirken. Aber er könnte einen Unterschied machen – auch im Selbstverständnis.
Denn solch eine Struktur würde zeigen, dass DIE LINKE es mit der häufig relativ folgenlos geäußerten Feststellung, dass Veränderung nicht allein über Parteien und Parlamente funktioniert, ernst meint und auch bereit ist, Ressourcen für Selbstorganisationsprozesse zu Verfügung zu stellen, die wesentlich außerhalb des klassischen Rahmens der Parteipolitik stattfinden müssen. Das mag dem Einen oder der Anderen Berufspolitiker vielleicht komisch vorkommen. Aber in der aktuellen gesellschaftlichen Zuspitzung wird DIE LINKE nur erfolgreich sein, wenn sie die praktischen Sorgen und Ängste der Menschen systematisch und in solidarischer Weise aufgreift und ihre Nützlichkeit Vorort unter Beweis stellt – auch jenseits von Wahlkämpfen und Talk Shows und vor allem dort, wo die Probleme von den Menschen erlebt werden. Es geht um nicht weniger, als darum, in der gegenwärtigen Situation gesellschaftlicher Polarisierung den dritten Pol der Solidarität jenseits von neoliberaler Zurichtung und völkischer Hetze wirksam werden zu lassen.
Hier kann systematische Vernetzung, kontinuierlicher Austausch und gegenseitige Unterstützung einen praktischen Nutzen für die Menschen entfalten und zugleich eine nachhaltige Grundlage für soziale Bewegungen und politischen Protest gegen Spaltung und Ausgrenzung legen. Das ist eine wesentliche Bedingung dafür, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wieder nach Links zu verschieben und der AfD langfristig das Wasser abzugraben. Mit »Solidarität hilft« könnte so eine neue Verbindung von parlamentarischer und außerparlamentarischer Politik gelingen.
Übrigens: Das Konzept wird langsam aber sicher ein selbstverständlicher Baustein für moderne Linksparteien. In Italien hat die Rifondazione-Abspaltung SEL gerade mit dem Aufbau genau so eines italienischen Solidarity4All unter dem Namen »Proxima« begonnen. Ähnliche Überlegungen gibt es bei Podemos in Spanien. Das zeigt: Die europäische Linke hat 2015 eine Niederlage erlitten, aber sie ist dabei zu zeigen, dass sie aus ihr lernt und der griechische Aufbruch im ersten Halbjahr 2015 etwas in Gang gesetzt hat. Da sollte DIE LINKE nicht Abseits stehen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.