Geopfert in Stalingrad
In sowjetischer Kriegsgefangenschaft schrieb Heinrich Gerlach einen Antikriegsroman. Jetzt ist der Originaltext erschienen
Es galt als verschollen in den Moskauer Staatsarchiven: das Originalmanuskript des Antikriegsromans »Die verratene Armee« von Heinrich Gerlach. Doch jetzt hat der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel die Urfassung des Buches ebendort gefunden und herausgegeben, unter dem Titel »Durchbruch bei Stalingrad«.
Der autobiografische Roman schildert Gerlachs Erlebnisse als deutscher Offizier und das Umdenken der Soldaten im Kessel von Stalingrad im Winter 1942/43. In sowjetischer Kriegsgefangenschaft wurde 1949 sein voluminöses Manuskript aber konfisziert. Hier beginnt eine äußerst ungewöhnliche Publikationsgeschichte: Durch Hypnose versuchte Gerlach nach Weltkrieg und Gefangenschaft, sich an die Details seiner Erlebnisse und des Romans zu erinnern und das Buch neu zu verfassen, was nur teilweise funktionierte. Mühsam trug er Fakten zusammen und schrieb das Werk neu. »Die verratene Armee« erschien 1957 in Westdeutschland.
Die Neufassung ist im literarischen Ton der BRD verfasst und geht auf Distanz zu den Ereignissen. Dabei konzipiert Gerlach, wie andere Weltkriegsautoren auch, das Narrativ eines Verrats der nationalsozialistischen Führung an den deutschen Soldaten in Stalingrad, die unter der sinnlosen Anordnung, niemals zu kapitulieren, geopfert worden seien.
Die jetzt erst, nach 70 Jahren, von Gansel gerettete Originalversion ist da lesenswerter, ergreifender und vielschichtiger. Zunächst ist sie genauso in drei Teile gegliedert wie »Die verratene Armee«, der Plot ist wesentlich gleich. Beide Versionen wurden im Drang geschrieben, zu dokumentieren und aufzuklären. Ebenso findet sich in ihnen das Opfernarrativ der Soldaten, und es mangelt auch nicht an diversen christlichen Metaphern, wie jener, dass die Armee durch eine »Kreuzigung« zur Erkenntnis kam und in die Hölle geblickt hätte. Jedoch ist »Durchbruch bei Stalingrad« unmittelbarer, im dramatischen Modus, das heißt, ohne erzählerische Distanz verfasst und somit näher am Geschehen. Damit ist die Wirkung der dokumentierenden Handlung in vielen sprachlichen Details erschütternder.
Authentisch wirkt der Roman nicht nur durch seine Mischung von realen und fiktiven Protagonisten, sondern auch durch die langsame Änderung der soldatischen Mentalität. Begonnen wird mit der Hoffnung des Oberleutnants Breuer (Gerlachs Alter Ego) und des Soldaten Lakosch, zu Weihnachten 1942 »heim ins Reich« zu dürfen. Als diese Aussicht zerfällt und eben kein Durchbruch im Kessel von Stalingrad möglich ist, denken die Protagonisten langsam um. Anfangs glauben sie noch, leichtes Spiel gegen die Sowjetunion zu haben, aber je länger die Stationierung dauert und je härter die Angriffe gegen die Wehrmacht werden, desto heftiger zerfällt der Glaube an eine Heimkehr.
Lakosch beispielsweise desertiert, nachdem seine Kameraden seinen Hund getötet und gegessen haben. Pfarrer Peters zerbricht fast an dem Gegensatz seiner Auffassung von Nächstenliebe und seiner Position als Armeepfarrer, weswegen er schließlich zu den ukrainischen Sowjets überläuft. Und manch ein General wundert sich, warum die Soldaten keinen Widerstand leisten.
General von Hermann etwa sieht ein, dass hier sein aristokratisch-nationalistischer Militarismus demontiert wird und es Zeit für eine Revolution gegen Hitler wäre, die er, als Angehöriger der alten Eliten, nicht zu leisten vermag. Und Breuer konstatiert, dass die wahre Front zwischen Recht und Unrecht verlaufe, wobei die Deutschen auf der falschen Seite stünden.
Gerade der letzte Punkt ist spannend: Trotz Opfernarrativ zeigen sich an mehreren Stellen die Verbrechen der Wehrmacht, ob nun begangen aus rassistischer Überzeugung oder ideologischer Verblendung, etwa Lakoschs irrer Hoffnung, mit dem Nationalsozialismus einen deutschen Sozialismus zu bekommen. Zwar setzt sich der Roman wenig mit Phänomenen wie dem Antisemitismus auseinander, doch sukzessive sehen die Protagonisten ein, dass Hitler ein, teils von ihnen an die Macht gebrachter, Verbrecher ist, der sie nun mit pathetisch-aggressiven Reden opfert. Damit ist das Buch näher am Protagonisten und dennoch kritisch reflektierend.
Heinrich Gerlach war kein brillanter Literat, der besonders tief in die Gedankenwelt seiner Charaktere eintauchte oder stilistisch besonders versiert war. Umso erstaunlicher ist es, dass es ihm mit einfachen Beschreibungen und Äußerungen gelang, die Verbrechen der deutschen Soldaten und die an ihnen begangenen Gräueltaten plastisch, mit diversen, manchmal zur Langatmigkeit tendierenden Details zu schildern. Insgesamt ist Gerlachs Originalversion also ein starker, detaillierter und tiefgreifender Antikriegsroman.
Ergänzt wird die Erstveröffentlichung von »Durchbruch bei Stalingrad« durch einen ausführlichen Anhang und ein Nachwort des Herausgebers Gansel. Auf circa 200 Seiten beschreibt er minuziös die Editionsgeschichte der Romane Gerlachs und vergleicht sie. Auch porträtiert er den 1991 verstorbenen Autor.
Heinrich Gerlach: Durchbruch bei Stalingrad. Hrsg. v. Carsten Gansel. Galiani, 704 S., geb., 34 €.
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