Wer Schmetterlinge lachen hört
Die Grönemeyerisierung schreitet munter voran: Wie in Deutschland gesellschaftsaffirmative Konsens- und Erbauungsmusik das Freiheitsversprechen des Pop ruinierte. Von Thomas Blum
Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Allerdings kommt es darauf an, dass das Richtige gesungen wird und nicht das Falsche. Weswegen sich 1956, elf Jahre nachdem von den Alliierten die letzten deutschen Konzentrationslager stillgelegt worden sind, in der Bundesrepublik die meisten Rundfunksender weigerten, die soeben frisch erschienenen Singles des US-amerikanischen Sängers Elvis Presley abzuspielen. Schließlich hatte man nicht umsonst jahrelang beigebracht bekommen und gelernt, was von der entsittlichenden bzw. entarteten Juden- und Negermusik zu halten ist.
Im selben Jahr wie Elvis’ erste Singles erschien in der BRD auch Freddy Quinns Single »Heimweh (Dort, wo die Blumen blühn)«, bei der man naturgemäß keinerlei Bedenken hatte, was das Abspielen im Radio anging, und die sich acht Millionen Mal verkaufte. Wenn Freddy seinerzeit »So schön, schön war die Zeit« sang, war die Gegenwart suspendiert und die Nostalgie hatte freie Bahn. Wenn man auch nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen konnte, ob der Sänger bzw. das lyrische Ich nun die schöne Zeit in der Wehrmacht meinte oder die schöne Zeit mit der Liebsten im Heuschober. Eines stand fest: Artfremdes Getöse war das nicht.
Beim Schunkeln musste man in den 50er und 60er Jahren so wenig denken wie beim Marschieren in den Vierzigern. Das war das Erfolgsrezept des deutschen Schlagers, dessen »Kerngeschäft die Verdrängung blieb«, wie der linke Poptheoretiker Frank Apunkt Schneider in seiner sehr lehrreichen Studie »Deutschpop halt’s Maul!« schreibt. Die »Menschen und Orte« waren in der Welt des Schlagers »meist so geschichtslos wie die liebenswerten Kleinbürger, die Heinz Erhardt in Unterhaltungsfilmen spielte, die eine Welt ohne Vergangenheit zeigten«. Und so wie im deutschen Schlager, dem »deutschen Sonderformat« des Pop, die NS-Vergangenheit auf magische Weise verschwunden und zugleich vorhanden war, so gab es auch dann, wenn Dinge wie Heimat oder Fernweh verhandelt wurden, eine gleichzeitige An- und Abwesenheit: eine wahlweise heimattümelnde oder exotisierende Romantik war anwesend, die verstörende Wirklichkeit jedoch war abwesend. Man wollte im Fernweh des deutschen Schlagers »das Fremde kulinarisch genießen, ohne es dafür gleich zusammentreiben oder erschießen zu müssen«.
Der deutsche Nachkriegsschlager, so analysiert Schneider, »modernisierte den des Dritten Reiches thematisch und musikalisch gerade so weit, dass (…) die Kontinuitäten nicht allzu sehr ins Auge sprangen«.
Mehrere Generationen in Deutschland haben sich seither - von den 50er bis zu den 90er Jahren, als Popmusik in ihren diversen Ausprägungen noch Soundtrack zur Revolte sein konnte und die Ausbildung eines Musikgeschmacks noch zu der politischen Sozialisation eines kritischen jungen Menschen gehörte - daran abgearbeitet, der postnazistischen popkulturellen Landschaft in der BRD etwas entgegenzusetzen: In den Sechzigern versuchten etwa deutsche Bands wie die Rattles oder die Lords, sei es bewusst oder unbewusst, durch das Imitieren angloamerikanischer Vorbilder die unselige deutsche Musiktradition, die sich nach wie vor im deutschen »Volkslied« und Schlager manifestierte, zu »überschreiben«. Subkulturelle Gegenorte wie der Hamburger »Star-Club« wurden geschaffen, an denen dem gesunden deutschen Volksempfinden der Rausch und der Exzess entgegengesetzt wurden: »In dem dunklen Raum steht der Lärm wie ein gewaltiges Tier, er überfällt den Eintretenden mit elementarer Wucht, schlägt ihm hart in den Magen, brutal aufs Trommelfell, auf jeden Nerv. Der Lärm ist rhythmisch stampfend, wie in einer Maschinenhalle«, hieß es 1963 im »Hamburger Abendblatt«.
Doch nicht alles, was bei dem Versuch, eine musikalische Gegenkultur zu etablieren, herauskam, war überzeugend. In den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern bastelten etwa Figuren wie Peter Kraus an einer jugendfreien und vollständig domestizierten, auf den deutschen Markt zugeschnittenen Version des Rock ’n’ Roll, indem sie diesen um alles Exzessive und Schmutzige bereinigten. Heraus kamen kreuzbrave, harmlose Mitsingschlager.
In den späten Sechzigern und Siebzigern folgten die zumeist biederen deutschen Prog- und Jazz-rockgruppen, die »brav und hausbacken internationale Erfolgsmodelle kopierten«, oder Deutschrockkapellen, die ihren Hang zum deutschen Natur- und Innerlichkeitskult zu erfolgreichem Aussteigertum verklärten und häufig »schwer verquasten Quatsch« zusammenreimten (»Wer Schmetterlinge lachen hört / Weiß, wie Wolken schmecken«).
Erfreulicherweise gab es auch ungewöhnliche Bands wie etwa Can, Neu!, Faust oder Kraftwerk, die, auch indem sie stärker mit elektronisch generierten Sounds experimentierten, musikalisches Neuland betraten und den musikalischen Underground bildeten.
Es folgten, mit wabernden, wogenden Synthesizermelodien, die Langhaarigen und Späthippies, die »seelenvolle Gestimmtheit verströmten« und auf die Tradition der deutschen Romantik Bezug nahmen.
Ganz schlimm aus heutiger Sicht auch die sogenannten Liedermacher: Degenhardt, Wader, Mossmann und andere linke Künstler, analysiert Schneider, verstanden sich in den 60ern zwar zu Recht »als Gegenkultur zum postnazistischen Deutschland«, doch heute »wirkt ihre Musik ein wenig reaktionär und im unangenehmen Sinne: deutsch«. Im anderen deutschen Staat, der DDR, schien es nicht besser zu sein. Dort wurde man derweil genötigt, den Erzeugnissen der »FDJ-Singebewegung« zu lauschen, »die ihren linientreuen Folkpazifismus mit patriotischen Bekenntnissen zum Arbeiter- und Bauernstaat aufmotzte«. Noch schwerer erträglich dürfte nur der zwischen bleischwerer Besinnlichkeit, Betulichkeit und Betroffenheit pendelnde »DDR-Rock« gewesen sein, der als »ein besonders gehemmtes deutsches Sonderformat« gelten kann, »das auch im direkten Bruderländervergleich alt aussah«.
Neu war in der Bundesrepublik auch der in den Siebzigern aufkommende linke Politrock, doch der hing in seiner deutschen Ausprägung leider oft einer »protestantischen Eindeutigkeitsethik« an oder übte »stocksteife Kapitalismuskritik« (Schneider nennt als Beispiel etwa Floh de Cologne). Da war man froh, wenn plötzlich eine Gruppe auftauchte, deren Texte nicht klangen, als stammten sie »aus den Strategie- und Analysepapieren der nächstbesten K-Gruppe«, beispielsweise eine wie Ton Steine Scherben, die auch begriffen hatte, »dass es nicht reichte, von der Rebellion bloß zu singen. Sie musste materialästhetisch auch gezeigt werden.«
Erst als schließlich Ende der Siebziger die Ironie, der fröhliche Nihilismus und die »spielerischen Verwirrstrategien« des Punk in der Bundesrepublik Einzug hielten, hatten der Authentizitätswahn, der Kitsch, die »dröhnende Nachdenklichkeit« und das deutsche Pathos zumindest kurzzeitig Pause. Schneider schreibt über die Bundesrepublik der frühen 80er Jahre: »Die BRD war (…) ein utopischer Nicht-Ort, auf den niemand stolz sein oder sich emphatisch beziehen konnte. Selbst die Nationalmannschaft spielte beruhigend schlecht.« Und die Band Freiwillige Selbstkontrolle sang dazu: »In Berlin gibt es die Mauer/Und die Erbauer dieser Mauer/Gaben uns Geborgenheit/Gemütlichkeit, Gemeinsamkeit«.
Schneider hat sich aber nicht nur tapfer durch den Nachkriegsschlager, die Beat-Ära, das ausufernde Werk der deutschen Kraut-Polit-Rock-Liedermacher-Tradition, den deutschen New Wave, den 90er-Jahre-Diskurspop und den formatradiotauglichen, stromlinienförmigen Einheits- und Schlagerpop von heute gewühlt. Er beschreibt und erklärt in seinem Buch, wie einstmals dem Konsum von Popmusik ein Moment der Befreiung innewohnen konnte, wie er die Tür öffnen konnte zu einer neuen, bisher unbekannten Welt jenseits des muffigen, provinziellen Kleinbürgerlebens, wie ein »popkulturelles Artefakt zur kompakten kleinen Fremde« werden konnte, »die hinter verschlossener Türe genossen und als Geste, Stil, Frisur oder später im Walkman durch die Stadt getragen werden konnte; ein Volksverrat im Snack-Format, der den klebrigen Generationenvertrag mit Stamm, Kultur und Scholle außer Kraft setzte«. Schneider erklärt aber auch, wie es passieren konnte, dass solcherart Dissidenz und Subversion, wie man sie etwa Anfang der 90er bei den Diskursrockbands der sogenannten Hamburger Schule fand, heute aus dem Pop vollständig getilgt sind, wie in der Folge der sogenannten Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und der rot-grünen Regierungsjahre ein »unverkrampfter«, unorigineller und gesellschaftsaffirmativer Konsens- und »Gemütspop« entstand, der heute - nicht anders als einst der deutsche Nachkriegsschlager - dazu dient, gesellschaftliche Widersprüche zu verkleistern, und nicht die geringste Spur von Ambivalenz oder gar Kritik aufweist. Ein Popentwurf, der armseliger nicht sein könnte (Popmusik als Wirtschaftsfaktor, Patriotismusgenerator und Partybeschallung) und dem es vor allem um zweierlei geht: um das Abrufen sentimentaler Gefühle beim Hörer und die Herstellung einer Identität mit dem nationalen Kollektiv. Ein Popentwurf, mit dem sich »das Konstrukt der Nation als besonders bunt und flippig (…) verkaufen« lässt - man denke etwa an die schwarzrotgoldenen Irokesenperücken, die an Fußballfans verkauft werden - und mit dem sich die NS-Geschichte endgültig im Gedächtnisloch versenken lässt. Wo Pop sich nicht abgrenzt, nicht verneint, nicht stört, nicht das Mitmachen verweigert, sondern »sich einem locker zwischen Lichterkette und Brandanschlag swingenden Gemeinschaftsgefühl verpflichtet fühlt, kann er keine Parallelgesellschaft mehr sein«, schreibt Schneider.
Dabei war Pop ursprünglich einmal »eine Musik der Fremden, der Entrechteten, der Heimatlosen, der Verschleppten, Flüchtenden, Exilierten«, wie Georg Seeßlen feststellt. »Amerikanische Popmusik verspricht eben nicht eine andere Heimat, sondern eine Gemeinschaft der Heimatlosen, einen gelebten und lebenden Gegensatz zum faschistischen Blut und Boden.«
Das vielzitierte Freiheitsversprechen des Pop ist heute keinen Pfifferling mehr wert. Denn mit dem Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft wurden, so Schneider, »die Entgrenzungsangebote der Popkultur (...) zu Technologien der Selbstoptimierung und verloren den Nimbus einer wie auch immer fiktiven Opposition zu den herrschenden Verhältnissen«.
So ist es und nicht anders. Der sich ehemals antinational verstehende deutsche HipHop ist heute »Tummelplatz deutscher Identitäten«. Der »neue Indiedeutschpop (…) manifestiert sich als endloser Schwall, bei dem nur eines feststeht: Die nächste Newcomerband ist immer die schlimmste.« Und für die Erwachsenen singen derweil Xavier Naidoo »reichsdeutschen Kuschelrock-Soul«, Helene Fischer hausbackene Schlagerballaden und Bands wie Frei.Wild nationalistisch-pathetischen Rechtsrock.
Frank Apunkt Schneider hat eine Art ideologiekritische Geschichte der Popkultur der BRD verfasst. Eine, die kein Happy End hat. Dafür ist ihm - in Anbetracht all jener Wagenladungen Jubel- und Erbauungsbücher zum deutschsprachigen Pop, die hierzulande alljährlich erscheinen - nicht genug zu danken.
Frank Apunkt Schneider: »Deutschpop halt’s Maul. Für eine Ästhetik der Verkrampfung«. Testcard-Zwergobst/Ventil-Verlag. 110 S., 10 €.
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