An die Seite der migrantischen VerschwörungstheoretikerInnen!

  • Markus Mohr
  • Lesedauer: 6 Min.
Migrantische Manifestationen in Kassel und Dortmund haben bereits vor zehn Jahren die Ermittlungsbehörden kritisiert und ausgesprochen, dass die Mordserie des NSU einen rechten Hintergrund habe.

Mehmet Kubasik wurde am 4. April 2006 um 12.50 Uhr in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße ermordet. Zwei Tage später, am 6. April 2006 um 17.01 Uhr, richteten die Nazimörder Halit Yozgat im Internetcafé an der Magistrale Holländische Straße hin. Es handelte sich um die achte und neunte Hinrichtung der Ceska-Mordserie. Auch hier zielten die ersten Ermittlungsschritte der Polizei gegen die Verwandten der Ermordeten. Ismail Yozgat, der seinen sterbenden Sohn in Händen hielt, wurde noch vom Tatort von der Polizei zur Vernehmung auf das Revier verbracht.

Nun, in der unmittelbaren Aufarbeitung auch dieser beiden Morde schien aus der Sicht der ermittelnden Polizeisonderkommission »Bosporus« nach den Worten des leitenden Kriminaldirektors Wolfgang Geier business as usual angesagt zu sein. Zwar seien die neun Morde »sehr rational, überlegt und planvoll ausgeführt worden«, konstatierte er damals, er halte aber »wenig von ausländerfeindlichen Hintergründen«. Umso mehr hielten die damalig rapportierenden Redakteure des Magazins »Focus« von Hinweisen, die auf mutmaßlich zwielichtig-kriminelle Bezüge der Opfer verwiesen: »In der Wohnung eines Ermordeten fanden Kriminaltechniker Rauschgiftreste, drei weitere getötete Händler unterhielten Kontakte zum Drogen- und ins Rotlichtmilieu. Kripochef Geier und die ›Bosporus‹-Ermittler konzentrieren sich deshalb auch auf Geschäfte der türkischen Drogenmafia in den Niederlanden und auf Geldwäsche.«

Angehörige demonstrieren

Doch die Familien Kubasik und Yozgat taten etwas, was unter dem Damoklesschwert mörderischer neonazistischer Gewalt und der in Deutschland noch stets dazu begleitend professionell organisierten polizeilichen Ermittlungsroutine nicht vorgesehen war: Sie traten aus der ihnen gesellschaftlich zugeordneten Rolle als stumm-duldend gemachte Opfer heraus und organisierten sich und ihre Communitys um eine gut begründete Verschwörungstheorie: Ihnen war völlig klar, dass es nicht jemand von ihnen selbst, oder »die Mafia«, oder »die kurdische PKK« gewesen sein konnte, die ihre liebsten Anverwandten liquidiert hatten. Und so wurde von ihnen zunächst in Kassel am 6. Mai 2006 in einem von mehreren Tausend Migranten durchgeführten Marsch unter Slogans wie »Schläft das Innenministerium?« eine Kundgebung »Kein 10. Opfer!« organisiert. Vor dem Rathaus rief Semiya Simsek aus: »Ich bin ohne Vater aufgewachsen, ich habe die ganzen Schmerzen erlebt. Und als erstes wurde unsere ganze Familie beschuldigt. Wer wird denn jetzt beschuldigt? Wir rufen Sie auf, bitte gucken Sie sich mal um wie viele Opfer gestorben sind. Wie viele sollen denn noch sterben, damit die Täter gefasst werden? Endlich sollen die mal gefasst werden.«

Knapp einen Monat später, am 11. Juni 2006, kam es auch in Dortmund zu einem Schweigemarsch von 200 MigrantInnen gegen die Mordserie der Nazis. Einer der Mitorganisatoren der Manifestation, Cem Yilmaz vom Alevitischen Kulturverein Dortmund, erklärte dort: »Die Ermittlungsbehörden machen nicht genug. (…) Alle Opfer sind Migranten. Da ist doch ein rechtsextremistischer Hintergrund sehr einleuchtend (…). Stattdessen gucken die Ermittler nur nach links, wollen wissen, ob Mehmet in der PKK aktiv war.«

Betreuter Mord im Internetcafé

Nach diesen Kundgebungen hörte die Ceska-Mordserie gegen die MigrantInnen auf. Seitdem wird das hessische Ministerium des Inneren – damals unter der Leitung von Volker Bouffier – von einer Aufgabe herausgefordert, die nicht leicht zu stemmen ist: Es muss immer wieder parlamentarische Kontrollgremien und die Öffentlichkeit über das tatsächliche Engagement des während des Mordes im Internetcafé anwesenden Mitarbeiters des Landesamtes für Verfassungsschutz, Andreas Temme, in gewiefter Weise belügen, weil es auf andere Weise seine Schutzfunktion für diesen nicht mehr wahrnehmen kann. Temme hatte nicht nur versucht, sich den polizeilichen Ermittlungen zu entziehen, sondern sich auch nur wenige Minuten vor dem durch staatliche Instanzen betreuten Mord im Internetcafé mit dem Skinhead und Neonazi Benjamin Gärtner besprochen.

Seit der Selbstenttarnung des NSU Anfang November 2011 kann jeder wissen, der sich dafür interessiert, wie sich die migrantische Verschwörungstheorie in Bezug auf die »Dönermorde« als brutale Tatsache eines Naziserienmordes in Wahrheit verwandelt hat. Das darf niemals vergessen werden.

Auch diesem Zweck diente die diesjährige Gedenkfeier für Halit Yozgat in Sichtweite des ehemaligen Internetcafés in Kassel, an der etwa 450 Leute teilnahmen. AktivistInnen der Kölner Initiative »Keupstraße ist überall« waren daran genauso beteiligt, wie eine Reihe von türkischen Vereinen. Die Familie Yozgat wurde dabei von der »Initiative 6. April« unterstützt. Und umrahmt wurde alles von ein paar ProfipolitikerInnen, die den Staat zu repräsentieren hatten. Eine diffizile Konstellation, hauptsächlich für die Grünen unter ihnen. So wurden die Anwesenden Zeuge davon, wie der stellvertretende hessische Ministerpräsident Tarek al Wazir in einer gut geölten Ansprache die Konsequenzen eines von ihm festgestellten »Versagens des Staates« bei dieser »unfassbaren Mordserie« in eine politisch »Weiter so und Schwamm drüber!«-Perspektive verwandelte. Sein Dienstkollege Bouffier, so überlieferte al Wazir, his Masters Voice, habe wirklich »ein großes Interesse daran für die Zukunft zu lernen, und dass er auch sehr mit der Familie Yozgat fühlt, das können sie glauben.« Auf so einen Einfall das Andenken an den NSU mit feixen zu verbinden, muss man wirklich erst einmal kommen!

Ismail Yozgat verschwendete in seiner Ansprache keine Aufmerksamkeit an ein solch verlogenes Konsensgequatsche und sprach deutlich: »Der Verfassungsschützer der Regierung hat meinen Sohn entweder getötet oder er hat die Mörder gesehen«, sagte der Vater. »Eine andere Alternative gibt es nicht.«

Gedenken durch Umbenennung der Straße

In seiner Ansprache kam er auch noch mal auf einen schon 2012 in einem Interview geäußerten Vorschlag zu sprechen: »Ich werde den Wunsch, dass die Straße umbenannt wird, immer in meinem Herzen tragen. ….Der Bürgermeister von Kassel … konnte es nicht ändern. Die Bürger von Kassel wollten nicht, dass die Straße ihren Namen wechselt. Wer weiß, vielleicht erfüllt sich mein Wunsch eines Tages doch noch.«

Auf Nachfrage der »Hessenschau« wusste die grüne Kasseler Stadträtin Anne Janz, die zuvor die Kundgebungsteilnehmer mit dem Aussagemodul zu erquicken suchte: »Kassel ist eine bunte Stadt und das ist auch gut so« mit dieser Forderung nichts anzufangen. »Im Moment gibt es dazu (im Stadtrat) keine Aktivitäten.«

Auch wenn man bedenkt, wie viel diese Gesellschaft der unerschrockenen Klage des Vaters von Halit Yozgat an Wissen über die Abgründe neonazistischer Gewalt in der Form des NSU-Massakers verdankt, wird man hier von dem Stumpfsinn des politischen Establishments doch ziemlich angebrüllt. Und es ist allerdings eine logische Unmöglichkeit davon als Antifaschist, Antirassist oder als Autonomer nicht provoziert zu sein. So haben wir spätestens bei der Gedenkfeier im nächsten Jahr allen Grund den Traum von Ismail Yozgat, die Magistrale Holländische Straße in Halitstraße umzubenennen, in geeigneter Art und Weise wahr werden zu lassen. Auch das soll in der Aufarbeitung des NSU ein Beitrag dafür sein, sich wenigstens nachträglich an die Seite der migrantischen VerschwörungstheoretikerInnen zu stellen.

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