Dem Pop sein Papa

Der Sänger und Musiker Paul McCartney gab in der Berliner Waldbühne ein umjubeltes Konzert

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 6 Min.
»Isch freu’ mich, wieder hier zu sein. Isch freu’ misch wie Bolle!« Kein Zweifel: Paule weiß, wie man mit dem Publikum spricht. Der beunruhigend jung und aufgekratzt wirkende Ex-Beatle Paul McCartney gab am Dienstag in der nahezu ausverkauften Waldbühne Berlins ein spektakeliges Nostalgiekonzert.

Aus Paul McCartney, dem Weltstar, dem Ex-Beatle, dem Everybody’s Darling des Pop, dem Komponisten der unkaputtbarsten Evergreens aller Zeiten, dem Lieblingsschwiegersohn mit dem fröhlich lachenden Bubengesicht ist über die Jahrzehnte hinweg schleichend der Lieblingspapa bzw. -großvater mit dem fröhlich lachenden Bubengesicht geworden. Paule ist aber im Grunde Paule geblieben. Ja, lassen Sie uns ihn für die Zeit, die Sie zur Lektüre dieses kleinen Textes benötigen, einfach Paule nennen, der Einfachheit halber. Und weil alle ihn und seine Lieder kennen und mit geschlossenen Augen mitsingen können.

Paule ist früh dran. Auf die Bühne kommt er zu einer Zeit, zu der der Berliner Clubgänger gerade sein Frühstück zu sich nimmt. Je älter das Publikum, so sagt man, desto früher der Konzertbeginn. Die Tagesschau jedenfalls dürfte noch nicht zu Ende sein, als Paule auf der Bühne erscheint. Paule wird übermorgen 74, aber das sieht man ihm nicht an. Es gibt Vierzigjährige, die älter wirken als er. Paule aber wirkt beängstigend gesund. Er ist rank und schlank, sein Gang ist federnd.

Paule ist zwar bekanntermaßen Brite, aber er ist auch Berliner. Er ist einer von uns. Denn Berliner zu sein, ist, wie man weiß, keine Frage der Herkunft, sondern eine Frage der Einstellung. Dass tief in ihm ein Berliner steckt, beweist Paule uns im Handumdrehen bereits mit den ersten Worten, die er spricht, nachdem er die Bühne betreten hat. »Isch freu’ mich, wieder hier zu sein. Isch freu’ misch wie Bolle!« Kein Zweifel: Paule weiß, wie man mit einem Publikum spricht. Das hat er drauf. Seit beinahe 60 Jahren. Es ist aber auch nicht völlig auszuschließen, dass Paule den Satz ein kleines bisschen auswendig gelernt hat, um seinem Konzert gleich zu Beginn den entscheidenden Dreh ins Volkstümliche zu geben. »Isch werde heute Nacht mein Bestes geben, ein bissschen Deutsch zu sprechen!«

Nicht nur Paule, der auch ganz abgesehen von seiner beunruhigenden Virilität einen überaus frisch geduschten Eindruck macht, freut sich wie Bolle, sondern auch das Publikum in der ausverkauften Waldbühne, das seinen Paule aufgrund des flotten Spruches gleich ins Herz schließt. Paule trägt Blue Jeans und ein grünes Jackett über dem weißen Oberhemd. Und er hat seine alte Beatles-Bassgitarre in den Händen. »It’s been a hard day’s night, and I’ve been working like a dog«, singt Paule. Klar, erst mal einen frühen Beatles-Klassiker raushauen, das Publikum da abholen, wo es steht. Schließlich dürften von den 22 000 Anwesenden die wenigsten gekommen sein, um von Paule experimentelle Zwölftonmusik zu hören. Nein, Paule hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass seine »One on One«-Tournee ganz der Retromanie gewidmet ist, der umfassenden Rückschau auf das beeindruckende Gesamtwerk des Künstlers: seinen würdig gealterten Beatles-Kompositionen und den Hits, die er mit seiner zweiten Band, den Wings, in den Siebzigern hatte. »Can’t buy me love«, singt Paule. Und alle singen mit. Alle wissen, dass Paule heute Abend ein buntes Potpourri seiner Lieder aus den 60er, 70er, 80er und 90er Jahren zum Besten geben wird.

Und bei den Musikern von Paules Begleitband kann man derweil all die Dinge, die die Jüngeren für längst ausgestorben hielten, in ihrem natürlichen Habitat beobachten: den Mittelscheitel, das ausgedehnte E-Gitarrensolo, das kunstvoll geknotete Cowboyhalstuch.

»That’s the only wardrobe change of the whole evening«, ruft der verschmitzte Paule nach einer Weile dem Publikum zu, als er sein Jackett ablegt. Und das Publikum lacht dankbar über den bodenständigen, uneitlen Paule. Paule rockt. Paule macht die Geballte-Faust-nach-oben-Geste. Paule animiert die Crowd zum Mitsingen und Mitklatschen. »Ob-la-di, ob-la-da, la-la-la-la la-la- Life goes on, la-la-la-la-la-la.«

Paule umarmt auch ein aus Japan angereistes Vater-Sohn-Duo, das plötzlich in grellfarbenen Sgt. Pepper-Fantasieuniformen auf die Bühne kommt, und hinterlässt sein Autogramm auf den Kostümen. Paule fragt, ob alle eine gute Zeit haben. Dann macht Paule einen fliegenden Wechsel von der Akustikgitarre zum Klavier, das hinter ihm aufragt. Das wird er im Lauf des Abends öfter tun. Behände springt er die Stufen zum Podest nach oben und wieder hinab. Dass Paule in ein paar Jahren 80 wird, wer soll das glauben bitteschön? Geschickt streut er die alten Evergreens ein: Bei »Love me do« kennt das Publikum kein Halten mehr und verfällt in einen kollektiven Klatschrausch. Und als Paule, »And I love her« singend und seinem Publikum kurzzeitig den Rücken zukehrend, zu einigen Takten kokett mit dem Hintern wackelt, bricht ein nicht unerheblicher Teil des weiblichen Publikums in Jubelschreie aus. Ach, Paule! So einen wie dich hätten wir hier bei uns auch gerne! Aber wir haben leider nur den Udo, den Marius und den Herbert. Und so wie die Namen klingen, so klingt auch ihre Musik.

Da schweigt unvermittelt Paules Begleitband. Denn Paule, der auf einmal ganz allein auf einem turmhohen Podest steht, singt ganz allein zur Akustikgitarre ein Lied, das er, wie er sagt, in den Sechzigern zur Ermutigung der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA komponiert hat: »Blackbird fly, Blackbird fly / Into the light of the dark black night.«

Später erzählt Paule schmunzelnd die Anekdote vom russischen Verteidigungsminister, der ihm nach einem Konzert, das Paule einst auf dem Roten Platz gespielt hat, vertraulich mitgeteilt habe, dass »Love me do« die erste Platte gewesen sei, die er sich als junger Mann gekauft habe.

Bei »Live and let die« schlagen Feuerzungen aus dem Boden, Feuerwerk, Kanonenschläge. Rumms! Bumms! Paule macht scherzhaft pantomimische Gesten des Ohrenzuhaltens.

Paule bietet eine eisern durchchoreographierte Nostalgie-Show dar. Paules Lieder sind heute die Lieder von allen. Paule verkauft Erinnerungen an die gute, alte Zeit des Kalten Krieges, als der Kapitalismus noch ein bisschen komfortabler war als heute. Paule vermarktet seinen eigenen Mythos, und man muss sagen, er macht das ganz hervorragend. Die Großleinwand hinter ihm zeigt fortwährend die passenden Bilder zur Legende: Paule in den Sechzigern, Faxen machend, Paule mit John, George und Ringo, Paule in den Siebzigern, als frischgebackener Hippiepapa mit Vollbart und vorne keck aus der Jacke lugendem Baby. Unser Paule!

Paule singt ein Lied für John. Und Paule singt ein Lied für George. Dass beide seit Jahren mausetot sind, spielt dabei keine Rolle. Denn Paule muss allein schon deshalb an seine alten Beatles-Kumpels erinnern, um beim Publikum die einschlägigen Emotionen zu triggern, die letzten Reste Sentimentalität herauszuquetschen. Das Leben als Entertainer ist hart, wenn man eine lebende Legende ist. »Let it be« erklingt. Zuverlässig werden die Handys und Feuerzeuge hochgehalten. Zur Zugabe kommt Paule mit Deutschlandflagge auf die Bühne, einer der Mitmusiker mit der britischen. Gemeinsam halten sie auch die Regenbogenflagge hoch und bekunden ihre Trauer um die Opfer des Terroranschlags von Orlando. Dann singt Paule wieder. »Yesterday came suddenly.« Paule dankt der Crew, der Band und uns, dem Publikum. Kanonendonner, Papierschnipselregen, Rauchwolken. Paule ist ein Teufelskerl. Am Andenkenverkaufsstand kann man einen anderthalb mal anderthalb Meter großen Wandteppich mit Paules Konterfei erwerben. Er hat Fransen und kostet 90 Euro. Paule, wir lieben dich.

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